Interview

„Zentren sind die Reallabore unserer Gesellschaft“

Auch wenn ihr Ministerium in der Berliner Krausenstraße selbst noch eine Baustelle ist, widmet ­sich die Bundesbauministerin Klara Geywitz bereits mit großem Einsatz einer weiteren: der Zukunftsfähigkeit der Innenstädte.

Von Mirko Hackmann 20.07.2022

© Bundesregierung/Jesco Denzel

Klara Geywitz: „Städte und Gemeinden resilienter zu machen, wird auch in Zukunft ein wichtiges Ziel bleiben“

Frau Ministerin Geywitz, zum 1. März dieses Jahres haben Sie den Vorsitz des seit Oktober 2020 bestehenden Beirats Innenstadt übernommen und die Innenstadtentwicklung damit zur Chefsache gemacht. Warum liegt Ihnen das Thema so am Herzen?
Das Zentrum ist wie die Visitenkarte einer Stadt. Innenstädte sind einzigartige, unverwechselbare und historisch gewachsene Orte, mit denen wir uns identifizieren, wo wir Gemeinschaft erfahren und zusammenleben. Früher traf man sich dort, um auf dem Markt einzukaufen, zum Schuster zu gehen oder, vor einer gefühlten Ewigkeit, seine Laufmaschen reparieren zu lassen. Durch diese Anlässe kamen Menschen zusammen. Ein sozialer, politischer und kultureller Nukleus entstand. Da will ich wieder hin. Wir brauchen Orte, wo man auf Nachbarn, Freunde und Bekannte treffen kann, ohne gleich groß Geld auszugeben.

Was sind für Sie die zentralen Erkenntnisse, die Sie durch den Austausch in dem Gremium mit Vertretern unter anderem von Handels-, Gastronomie- und Immobilienverbänden, kommunalen Spitzenverbänden sowie anderen Bundesressorts gewonnen haben?
Das erste Treffen in Präsenz hat mir sofort gezeigt, dass hier Menschen zusammenkommen, die diese immense gesellschaftliche Bedeutung von lebendigen Innenstädten und Ortskernen verstehen und durch Weiterentwicklung bewahren wollen. Obwohl hier ja durchaus sehr verschiedene Interessen zusammenfinden. Die einen betreiben Handel, die anderen wollen Gemeindehäuser und Kulturstätten stärken. Jedes einzelne Innenstadtgewerk, so will ich es mal nennen, bereitet aber durch sein Angebot die Grundlage für andere Nutzungen. Das Stichwort hier in Fachkreisen lautet multifunktionale Innenstadtentwicklung oder Nutzungsmischung. Das ist das Gegenteil von einem Center mit den immer gleichen Geschäften und nichts weiter. Da ist das Café neben dem Reparaturladen, der Elektrohandel neben der Musikschule usw.

„Innenstädte dürfen keine reinen Orte des Konsums und der Büroschließzeiten sein. Dann veröden sie“, haben Sie gegenüber den Potsdamer Neuesten Nachrichten gesagt. Stattdessen soll die Innenstadt von morgen laut der Strategie Ihres Ministeriums „multifunktional, resilient und kooperativ“ sein. Was heißt das konkret?
Das knüpft an das eben Gesagte an. Vor allem bedeutet es aber auch, Freiräume zuzulassen. Für mich heißt das ganz praktisch, dass wir Orte brauchen, an denen eine Familie oder ein Rentner auch mal einen Kaffee für 1,50 Euro trinken kann – und das in der Innenstadt. Das können dann zum Beispiel Einrichtungen der Kommune sein, die ein Mischkonzept aufweisen. Begegnungen können sich eben nicht mehr alle leisten, wenn sie immer mit Geldausgeben verbunden sind. Diesen sozialen Aspekt will ich in der Innenstadtdebatte voranbringen. Übrigens, resiliente Innenstadt bedeutet nicht nur, das Überleben des Einzelhandels, das in normalen Zeiten schon nicht einfach ist, zu sichern, sondern das Überstehen von Krisen beispielsweise in Pandemien oder bei der Anpassung an den Klimawandel. Auch das müssen wir viel stärker bei der Planung von Innenstädten berücksichtigen.

Bislang sprechen sowohl die vorwiegende bauliche Nutzung der Grundstücke in Kerngebieten sowie die Richtlinien der TA-Lärm gegen eine stärkere Durchmischung der Funktionen in Citylagen. Wie wollen Sie es schaffen, mehr Flexibilität zu ermöglichen, und wie gelingt die Abstimmung mit dem ebenfalls zuständigen Umweltministerium?
Ich finde den 15-Minuten-Stadt-Ansatz spannend. Das heißt, Sie wohnen, arbeiten und erledigen Ihren Alltag in einem Umkreis von einer Viertelstunde. Dahinter steht der Gedanke, zum Beispiel Werkstätten wieder in die Mitte der Stadt zu holen. Die machen auch mal Lärm, das stimmt, aber lange wurden Städte so geplant, dass Menschen zwar an riesigen Einfallstraßen leben mussten, die Werkstatt für den Wagen aber bitte ins Industriegebiet sollte. Um Leben und Arbeiten und Alltag perspektivisch wieder in den Innenstädten zu konzentrieren, müssen wir auch an die TA Lärm ran. Dazu befinden wir uns bereits in Gesprächen mit dem Umweltressort.

Die von Ihnen angestrebte nachhaltige Stadt soll ein Sozialraum sein, in dem sich Funktionen überlagern und neue Zusammenhänge bilden – jeweils unter der Prämisse der Ressourcenschonung. Welche Rolle kann der Einzelhandel als klassische Innenstadtfunktion bei der Neuordnung spielen und mit welchen anderen Nutzungen sollte er verknüpft sein?
„Stadt braucht Handel und Handel braucht Stadt“ - an diesem Grundsatz ändert sich nichts. Stärken wir Wohnen in unseren Innenstädten, dann brauchen wir gleichzeitig eine wohnortnahe Versorgung und Dienstleister. Touristen und Gäste werden auch weiterhin ein Shopping-Erlebnis, eng verbunden mit einem gastronomischen Erlebnis, suchen. Ich bin aber auch der Meinung, dass wir uns verstärkt neuen Geschäftsmodellen widmen sollten, die Chancen für die Entwicklung von Zentren bieten, zum Beispiel denen der Shared Economy. Wenn ich weiß, dass ich im Zentrum einen Reparaturdienstleister finde, dann schaue ich sicher auch gerne bei dieser Gelegenheit im benachbarten Laden vorbei. Wenn meine Kaffeemaschine den Geist aufgibt, möchte ich sie gerne bei mir im Ort reparieren lassen und nicht kompliziert einschicken oder gar wegwerfen müssen. Am Ende ist dieser Mix eine Win-win-Situation für alle. Ein Patentrezept für die Nutzungsmischung in der Innenstadt gibt es aber nicht. Ob Innenstadt, A- und B-Lagen, Stadtteilzentren oder Ortskerne, ob Groß-, Mittel- oder Kleinstadt – die Voraussetzungen, Anforderungen und Ressourcen sind dann doch sehr ortsspezifisch.

Der Handelsverband Deutschland fordert neben einem Digitalisierungsfonds in Höhe von 100 Millionen Euro sowie Sonderabschreibungen für Innenstadtinvestitionen auch ein Sonderprogramm Innenstadtentwicklung mit jährlich mindestens 500 Millionen Euro für eine Laufzeit von fünf Jahren. Wie stehen Sie dazu – und haben Sie darüber schon mit Finanzminister Lindner gesprochen?
Die Kommunen stehen vor großen Herausforderungen. Aber mit den Bundesfinanzhilfen der Städtebauförderung, insbesondere dem Programm Lebendige Zentren, der vom Beirat Innenstadt erarbeiteten Innenstadtstrategie und dem 250-Millionen-Euro-Bundesprogramm „Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren“, kann der Bund die Kommunen bei der Bewältigung dieser Herausforderungen unterstützen. Die Stärkung der Zentren ist seit jeher wichtiger Schwerpunkt der Städtebauförderung: Mehr als 60 Prozent der Bundesfinanzhilfen fließen in die Zentren und Ortskerne. Rechnet man die innenstadtnahen Bereiche hinzu, sind es mehr als 80 Prozent. Die bisherigen jährlichen 790 Millionen Euro Bundesfinanzhilfen zugrunde gelegt, fließen somit mehr als 500 Millionen Euro jährlich in die Zentren, inklusive Nahbereich. Rechnet man die Mittel der Länder und Kommunen hinzu, sind es fast 1,9 Milliarden Euro jährlich.

Mit dem Bundesprogramm „Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren“ hat das BMWSB eine neue Initiative zur Förderung der Resilienz und Krisenbewältigung in Städten und Gemein­den mit einem Fördervolumen von 250 Millionen Euro gestartet. Wird dies einmalig bleiben oder werden in Zukunft noch mehr als die bisher partizipierenden 238 Kommunen davon profitieren?
Zunächst einmal habe ich mich über das große Interesse der kommunalen Familie an diesem Programm sehr gefreut. Städte und Gemeinden resilienter zu machen, wird auch in Zukunft ein wichtiges Ziel bleiben und die Bedeutung noch zunehmen. Wir haben das Programm erst einmal ausfinanziert und wollen die unterschiedlichen Ansätze nun evaluieren. Dabei beziehen wir die Fachpolitikerinnen und -politiker aus dem Bau- und dem Haushaltsausschuss des Bundestages eng mit ein und entscheiden dann, wie es weitergeht.

Am 7. Juli findet in Potsdam ein von Ihnen initiierter Kongress gegen die Verödung von Innenstädten statt. Welcher Impuls soll von der Veranstaltung ausgehen und welche Rolle spielt dabei die Innenstadtstrategie des Beirates Innenstadt?
Es ist ein simpler Grundsatz: Das Rad muss nicht immer neu erfunden werden. Was Kommune A gut macht, kann Kommune B in etwas anderer Form vielleicht übernehmen. Dieser Kongress soll auch ein Freiraum für den Austausch und kreative Ideen sein. Wo drückt der Schuh am meisten? Was kann noch besser gemacht werden? Dafür muss man zusammenkommen, in Präsenz, mit einem ordentlichen Kaffee oder Tee. Wir wollen hier Menschen zusammenbringen, die Menschen zusammenbringen sollen. Das steht auch hinter dem Programmnamen „Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren“.

Stadtumbau ist ein langwieriger und ­kostenintensiver Prozess, an dem jeweils viele Stakeholder vor Ort beteiligt sind. Was, glauben Sie, werden Sie bis zum Ende Ihrer Legislatur für die deutschen Innenstädte erreicht haben?
Stadtentwicklung ist zunächst ureigene Aufgabe der Kommunen als Teil der verfassungsrechtlich garantierten kommunalen Selbstverwaltung. Der Bund kann den Ländern aber ein Partner sein, wenn es darum geht, die rechtlichen Rahmenbedingungen, Förderung und den Wissensaustausch zu gestalten. Die Herausforderungen, vor denen unsere Innenstädte und Zentren derzeit stehen, sind enorm. Was hilft: Es gibt sicher wenig gesellschaftliche Bereiche, bei denen sich alle Beteiligten so einig sind. Unsere Innenstädte und Zentren sollen lebenswert und attraktiv bleiben. Sie sind die Reallabore unserer Gesellschaft. Wenn wir in diesem Geiste weiter miteinander arbeiten und die Aufgaben gemeinsam angehen, dann bin ich zuversichtlich, dass wir in den kommenden Jahren eine Menge voranbringen können. 

Klara Geywitz

1976 in Potsdam geboren, ist seit Dezember 2021 Bundesminis­terin für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen im Kabinett von Olaf Scholz. Nach dem Studium der Politikwissenschaft saß die Sozialdemokratin von 2004 bis 2019 als direkt gewählte ­Abgeordnete im Landtag Brandenburg. 2008 wurde sie zur ­stellvertretenden Vorsitzenden, 2013 zur Generalsekretärin der SPD Brandenburg gewählt. Nachdem sie zuvor gemeinsam mit Olaf Scholz für den SPD-Vorsitz kandidiert hatte, wurde Geywitz 2019 stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende. Von 2020 bis zu ihrer Berufung als Ministerin arbeitete Geywitz als Prüfgebietsleiterin beim Landesrechnungshof Brandenburg

Schlagworte: Innenstädte, Vitale Innenstädte, Einzelhandel

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