Expertentalk

„Wir brauchen Zuwanderung“

Zwei Millionen Stellen sind vakant, bis 2035 könnten weitere sieben Millionen Arbeitskräfte fehlen. Umso wichtiger, neue Arbeitsformen zu erproben. Doch sich attraktiv zu machen, reicht nicht. Drei Fachleute diskutieren mögliche Auswege.

Von Mirko Hackmann 17.01.2023

© Sebastian Pfütze

Diskutieren über die Zukunft der Arbeit: (v. l.) Steven Haarke (HDE), MdB Beate Müller-Gemmeke (B90/Die Grünen) und Christopher Ranft (Rewe).

In der Coronapandemie hat mobiles Arbeiten dank der neuen digitalen Möglichkeiten einen ungeheuren Schub erfahren. New Work ist mittlerweile ein gängiger Begriff, wenn von zeit- und ortsflexibler Erwerbstätigkeit die Rede ist. Frau Müller-Gemmeke, ist das Fluch oder Segen für Arbeitnehmer?
Beate Müller-Gemmeke: Für mich ist New Work eine große Chance, von der sowohl Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als auch Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber profitieren können – sofern die Rahmenbedingungen stimmen. Für Beschäftigte geht es primär darum, mehr Zeitsouveränität zu erlangen, also mehr Einfluss nehmen zu können, wann, wo und wie lange sie arbeiten. Vor allem für Frauen, aber vermehrt auch für Männer, ist entscheidend, je nach Alter der Kinder lebenslagengerecht arbeiten zu können. Bieten Unternehmen in diesem Sinne gute Rahmenbedingungen, profitieren sie davon. Denn in Zeiten des Fachkräftemangels werden sie als Unternehmen attraktiv, wenn für ihre Beschäftigten Arbeit besser ins Leben passt.

Mehr Flexibilität heißt aber auch, dass die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit zunehmend verschwimmt …
Müller-Gemmeke:
Deshalb braucht es gerade für die Arbeit im Homeoffice klare gesetzliche Regeln, die unsere Vorgängerregierung schlicht verschlafen hat zu erlassen. Es ist also gut, dass sich die Ampel mit dem Koalitionsvertrag darauf verständigt hat, ein Gesetz zu erarbeiten, das sämtliche Fragen von der Arbeitssicherheit über den Datenschutz bis hin zur Zeiterfassung regelt. Gerade zu Hause kann Arbeit leicht entgrenzen, also braucht es eindeutige und gute Rahmenbedingungen. Homeoffice kann kein reiner Telearbeitsplatz sein, sondern muss mit Bürozeiten alternieren. Es darf nicht sein, dass Leute außerhalb des Büros zu viel und länger arbeiten. Sie dürfen auch nicht unsichtbar werden, wenn es um Weiterbildung oder Aufstiegschancen geht.

Herr Haarke zuckt schon ein wenig zusammen, wenn Sie unverhohlen mit noch mehr Bürokratie drohen …
Steven Haarke:
In der Tat. Denn während der Pandemie haben wir ja millionenfach erlebt, dass Unternehmen und Beschäftigte sehr schnell verantwortungsvoll und gemeinsam praxisnahe Lösungen entwickelt haben, die auch langfristig tragfähig sind. Ich denke, dass der Gesetzgeber in Deutschland leider viel zu wenig von den Spielräumen nutzt, die uns die EU eröffnet. Vor allem die gesetzliche tägliche Höchstarbeitszeit von acht respektive zehn Stunden, die wir in Deutschland haben, ist nicht mehr zeitgemäß. Nach EU-Recht wäre es schon jetzt möglich, eine wöchentliche Arbeitszeit einzuführen, die mehr Flexibilität ermöglichte. Auch bei den starren täglichen Ruhezeiten von elf Stunden, die bei uns gelten, gibt uns das EU-Recht mehr Spielräume, als wir auf nationaler Ebene bisher genutzt haben. Flexiblere Arbeitszeitmodelle sind familienfreundlich. Sie weiter zu fördern, würde Beschäftigten entgegenkommen.

Fragen wir den Praktiker: Herr Ranft, welche Erfahrungen machen Sie in Ihrem Unternehmen mit Remote Work und wie verändert sich dadurch die Unternehmenskultur?
Christopher Ranft:
Remote Work eröffnet zahlreiche neue Möglichkeiten. Die Belegschaft nimmt das sehr positiv an, ganz einfach, weil es praktische Vorteile mit sich bringt: Das häufig als stressig empfundene Pendeln nimmt ab, Familien bekommen die Kinderbetreuung leichter organisiert, insgesamt nimmt die höhere Flexibilität viel Belastung raus. Auch wenn die Pandemie ein negativer Anlass war, hat sich das Ganze zu einem Erfolgsmodell entwickelt. Denn im Kampf um Fachkräfte ist das Angebot von Remote Work definitiv ein Plus. Umstellungen in den Prozessen waren dazu nur wenige nötig. Man muss allerdings aufpassen, dass der soziale Aspekt nicht verloren geht. Gerade für mich als Führungskraft ist es wichtig, dass der Austausch der Teammitglieder untereinander und mit mir weiter gelingt. Auch für das Onboarding neuer Mitarbeiter sind Präsenzzeiten wichtig. Daher achten wir sehr auf Ausgewogenheit: Zwei bis drei Tage pro Woche sollte jeder im Büro sein.

Schaut die Belegschaft, die auf der Fläche arbeitet, nicht bisweilen ein wenig neidisch auf die Freiheiten der Kollegen aus den Büros?
Ranft:
Nein, ehrlich gesagt war das bisher bei uns kein Thema. Es ist uns wichtig, allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gleichermaßen ausreichende Flexibilität im Rahmen ihrer jeweiligen Tätigkeiten zu ermöglichen – von der Verwaltung über die Logistik bis zum Vertrieb. Im Bereich der Führungskräfte können die Marktleiterinnen und Marktleiter auch mal einen Tag von zu Hause arbeiten, das nutzen sie auch. Den Kassiervorgang aus dem Homeoffice durchzuführen, ist zwar nicht möglich. Aber mit Teilzeitmodellen, Vertretungsorganisationen oder Eltern- und Pflegezeiten bieten wir für unsere Marktteams viele Modelle, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie aktiv zu unterstützen.

Frau Müller-Gemmeke, bei allen Veränderungen in der Arbeitsorganisation ist der Fach- und Arbeitskräftemangel das größte Problem für den Arbeitsmarkt – und eines der drängendsten politischen Probleme überhaupt. Wie wollen Sie diesen schwerwiegenden demografischen Umwälzungen begegnen?
Müller-Gemmeke:
Dieses Thema wurde in der Vergangenheit einfach ignoriert. Umso dringender müssen wir jetzt handeln, wohl wissend, dass sich hier kein Schalter umlegen lässt, der das Problem schnell lösen würde. Ich sehe viel Potenzial bei den Frauen: Millionen arbeiten in Minijobs, viele würden aber gern mehr arbeiten. Das scheitert häufig an der unzureichenden Kinderbetreuung, aber auch am Angebot selbst oder an unflexiblen, starren Arbeitszeiten. Wir müssen auch dafür sorgen, dass ältere Menschen länger gesund arbeiten können. Notwendig sind alters- und alternsgerechte Arbeitsbedingungen. Und wir brauchen Zuwanderung. Das geht nur mit modernen Einwanderungsregeln, wie sie beispielsweise Kanada praktiziert: also mit breiter Unterstützung für die Ankömmlinge und mit der Perspektive der Einbürgerung. Und schließlich gilt es, die Geflüchteten, die bereits im Land sind, fit für den Arbeitsmarkt zu machen und denjenigen, die bereits Arbeit haben, den Spurwechsel aus dem Asylrecht in die Erwerbsmigration zu ermöglichen.

Herr Ranft, auch der Handel ringt mit dem Fach- und Arbeitskräftemangel. Was müssen Sie als Unternehmen heute bieten, um attraktiv zu sein?
Ranft:
Die Frage ist simpel zu beantworten: attraktive Arbeit unter möglichst flexiblen Rahmenbedingungen. Sind Familie und Beruf gut vereinbar, ist das ein Riesenplus. Zudem setzen wir stark auf Aus- und Weiterbildungsangebote: Allein dieses Jahr haben wir 10 000 Auszubildende neu eingestellt. Um junge Menschen ans Unternehmen zu binden, ist es wichtig, eine gute Unternehmenskultur zu pflegen, die auf Wertschätzung und fairem Miteinander basiert. Zudem setzen wir auf Vielfalt, stellen uns also unabhängig von Herkunft, Geschlecht und Glauben bewusst im Sinne der Diversity auf. Wenn alle Menschen sich gleichermaßen wertgeschätzt fühlen, dann bleiben sie auch. Perspektivisch wird es aber nicht ohne Zuwanderung gehen. Um als Einwanderungsland attraktiv zu sein, braucht es eine gelebte Willkommenskultur.

Unattraktive Arbeitszeiten, oft monotone Tätigkeiten, mäßige Bezahlung, geringe Tarifbindung, nicht sehr hohes soziales Ansehen: Hat der Handel als Branche ein Imageproblem, Herr Haarke?
Haarke:
Die beiden Kernverkaufsberufe zählen jedes Jahr zu den beliebtesten Ausbildungsberufen, in denen allein über zehn Prozent aller Ausbildungsverträge in Deutschland geschlossen werden. Darüber hinaus bietet der Handel mehr als 60 weitere Ausbildungsberufe, attraktive Abiturientenprogramme sowie duale Studiengänge an. Zudem baut die Branche seit Jahren, und sogar in der Coronakrise, stetig Beschäftigung auf. Mittlerweile zählen wir mehr als 3,1 Millionen Beschäftigte, wobei der Anteil an Minijobbern in der Branche seit Jahren rückläufig ist. Zudem können Auszubildende im Einzelhandel ohne Abitur und Studium sehr gut Karriere machen. Karriere mit Lehre ist im Handel die Regel. Überdies hat die Branche als verlässlicher Arbeitgeber viel zu bieten: Neben der regionalen Verfügbarkeit der Arbeitsplätze und flexiblen Arbeitszeiten schätzen die Beschäftigten vor allem den direkten Umgang mit den Kunden. Obendrein verzeichnen wir überdurchschnittlich viele Frauen in Führungspositionen. Die Arbeitsbedingungen und Ausbildungsmöglichkeiten in der Branche sind wirklich gut. Insofern sehe ich kein Imageproblem. Im Gegenteil: In der Krise hat sich der Handel als verlässlicher Arbeitgeber und Ausbilder erwiesen. Das schlägt positiv auf die Wahrnehmung in der Gesellschaft und damit auf die Chancen am Arbeitsmarkt durch.

Müller-Gemmeke: Die Tarifbindung könnte aber deutlich höher sein! Ein Tarifvertrag, der für allgemeinverbindlich erklärt würde, wäre eine gute Sache.
Haarke:
Tatsächlich hat sich die Tarifbindung im Einzelhandel in den vergangenen zwei Jahren stabilisiert, wenn auch mit 28 Prozent zugegebenermaßen auf eher niedrigem Niveau. In den Jahren zuvor hatten wir einen kontinuierlichen Rückgang, verzeichnen also eine erste Trendumkehr, die wohl in einem engen Verhältnis zum Fachkräftemangel steht. Einzelhandelsunternehmen erkennen in der Tarifbindung zunehmend einen wichtigen Attraktivitätsfaktor. Man darf die Tarifbindung aber ohnehin nicht isoliert betrachten, denn viele der nicht tarifgebundenen Unternehmen orientieren sich freiwillig an unseren Flächentarifverträgen, sodass diese nach wie vor für etwa zwei Drittel aller Beschäftigten in der Branche gelten.

Müller-Gemmeke: Ich bin überzeugt, es würde der Branche sehr helfen, eine ähnlich hohe Tarifbindung zu etablieren wie beispielsweise die Metallindustrie. Da wissen alle: Das sind gute, sichere und geschützte Arbeitsplätze. Hätte der Handel einen vergleichbaren Ruf, wäre er für die Zukunft gut aufgestellt. Und noch ein Wort zu den Auszubildenden: Die Zeit der „Rosinenpickerei“ ist vorbei! In Zeiten des Mangels können sich die Betriebe nicht länger nur die Guten raussuchen. Es müssen gezielt diejenigen unterstützt und gefördert werden, die bisher als „nicht ausbildungsreif“ gelten, aber häufig dennoch viele Qualitäten haben.

Ranft: Da bin ich ganz bei Ihnen. Wir gehören schon seit Langem zu den Unternehmen, die jungen Menschen ohne Abschluss oder mit einem Hauptschulabschluss eine Ausbildung ermöglichen. Ebenso haben wir Angebote jenseits der Berufsschule aufgelegt, um die jungen Menschen mit unterstützenden Maßnahmen selbst zu qualifizieren. Auch andere Unternehmen im Handel halten das so. Als jemand, der früher bei Penny über lange Jahre die Ausbildung verantwortet hat, sehe ich das aber als eine gemeinschaftliche Aufgabe an, bei der Unternehmen, Staat und Berufsschulen kooperieren müssen.

Müller-Gemmeke: Genau darum war mir bei den Koalitionsverhandlungen die Ausbildungsgarantie ein besonderes Anliegen. Es braucht eine Kaskade: Wenn eine duale oder schulische Ausbildung nicht klappt oder nicht infrage kommt, dann braucht es das Angebot einer überbetrieblichen Ausbildung. Wir sind alle in der Pflicht, wenn es um junge Menschen geht.

Wenden wir uns einem anderen Thema zu, Frau Müller-Gemmeke: Anders als früher wandeln sich heute Berufsbilder mitunter binnen weniger Jahre, manche sterben sogar ganz aus. Braucht es künftig mehrere Ausbildungen oder Qualifikationen innerhalb eines Arbeitslebens?
Müller-Gemmeke:
Die Arbeitswelt wird sich stark verändern, denn wir haben zwei Transformationen zu bewältigen: Zum einen geht es darum, dass unsere Wirtschaft CO2-neutral werden muss. Zum anderen gilt es, endlich die Digitalisierung voranzutreiben. Aufgabe der Politik und der Sozialpartner wird es sein, das auch im Bereich der Berufsbilder abzubilden. Und damit werden Weiterbildungen, Fortbildungen und Zusatzausbildungen in Zukunft eine noch größere Rolle spielen. Lebensbegleitendes Lernen wird zum Standard werden. Das neue Bürgergeld bildet das bereits im Ansatz ab.

Herr Ranft, im Handel sind zunehmend Kenntnisse im Bereich digitaler Technologien gefragt. Die Branche muss sich daher auch als attraktiver Arbeitgeber für Akademiker positionieren. Wie konkurrenzfähig sehen Sie sich?
Ranft:
Mit Rewe Digital haben wir eine sehr große Spezialunit für diese Themen, unsere Kolleginnen und Kollegen entwickeln hier eine Vielzahl spannender IT- und Digital-Innovationen. Womöglich ist das in der Breite nicht so bekannt, wie es sein sollte, aber das Spektrum der IT-Aufgaben im Handel ist extrem vielfältig und geht weit über den Betrieb unseres Onlineshops und die Analyse von Daten hinaus. Unsere Läger beispielsweise werden zunehmend automatisiert, in unseren Rewe-Pick-&-Go-Märkten erproben wir das kassenlose Einkaufen. Dahinter steckt sehr viel anspruchsvolle Technologie. Darum haben wir auf diesem Gebiet auch keine Probleme, gute Leute zu finden. Der Handel gilt als sicherer Arbeitgeber. Bewerber achten heute vor allem auf die Unternehmenskultur.

Herr Haarke, was kann der HDE als Interessenvertretung des Handels dazu beitragen, die Branche auf dem Arbeitsmarkt attraktiver zu positionieren?
Haarke:
Mit unserer Ausbildungskampagne zeigen wir die Chancen und Möglichkeiten auf. Für jedes Talent hat der Handel die passende Qualifizierung parat. Das Ausbildungsplatzangebot der Branche ist so groß, dass Händler Mühe haben, ihre Stellen zu besetzen. Deshalb muss die geplante Ausbildungsgarantie mit Augenmaß ausgestaltet werden, an erster Stelle sollte der Ausbau der Berufsorientierung stehen. Gemeinsam mit unserem Sozialpartner Verdi modernisieren wir bedarfsgerecht Aus- und Fortbildungen, so ist auch der Kaufmann im E-Commerce entstanden. Außerdem haben wir zusammen mit PWC Deutschland und Google Deutschland als einer der ersten Spitzenverbände überhaupt eine umfangreiche Diversitystudie durchgeführt. Als HDE setzen wir uns zudem dafür ein, dass die Sozialpartner die Tarifbindung mittels moderner und attraktiver Tarifverträge aus eigener Kraft wieder stärken können. Wir haben dem Bundesarbeitsministerium bereits sehr konkrete Vorschläge vorgelegt, wie das gelingen kann. Daher bin ich optimistisch, dass wir eine Lösung finden. Eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) von Tarifverträgen lehnen wir mit Blick auf die negative Koalitionsfreiheit der Unternehmen – also das Recht, Koalitionen fernzubleiben – strikt ab. 

Schlagworte: Arbeitsplätze, Fachkräftemangel, New Work

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