Auf die Frage nach dem Digitalisierungsgrad des Landes hat die FDP-Digitalpolitikerin Ann Cathrin Riedel eine ernüchternde Antwort: „Wir leben sehr stark davon, dass man uns im Ausland für digitaler hält, als wir tatsächlich sind.“ Die Pandemie habe überdeutlich gezeigt, wie groß der deutsche Rückstand auf andere Länder sei. Dennoch sieht sie auch einen positiven Effekt: „Wir haben in der Krise gelernt, dass nicht alles schlecht ist, was mit Digitalisierung zu tun hat.“
Für Stephan Tromp, den stellvertretenden Hauptgeschäftsführer und Digitalisierungsexperten des Handelsverbands Deutschland (HDE), steht fest: Deutschland ist während der Pandemie wesentlich digitaler geworden. „Das kam zwangsläufig, weil persönliche Kontakte gar nicht möglich waren. So mussten wir unsere Wohlfühlzone verlassen und neue Dinge ausprobieren“, erklärt er. Dennoch gebe es noch viel Luft nach oben.
Sonja Moosburger, Chefin des auf neue Retail-Technologien spezialisierten MediaMarktSaturn-Tochterunternehmens N3xt, beobachtet ebenfalls einen Boom digitaler Lösungen während der Krise. Von Einlasskontrollen über Ship-from-Store- und Self-Check-out-Angeboten bis hin zu Social Commerce sei vieles in kurzer Zeit erfolgreich umgesetzt worden, auch weil Entscheidungsfreude und Pragmatismus stark zugenommen hätten. „Man traute sich, auch nicht perfekte Lösungen zum Kunden zu bringen.“
Metathemen wie New Shopping im Fokus
Eine Veränderung im Innovationsmanagement, die längerfristig Bestand hat? Sie beobachte jedenfalls, dass derzeit verstärkt über Metathemen wie New Shopping, Smart Logistics und New Work diskutiert werde, so Moosburger. Wie schnell in diesen Bereichen Fortschritte erfolgten, bleibe abzuwarten. „Ich hoffe jedenfalls, dass viele Unternehmen gelernt haben, dass sie auch mal ganz pragmatisch Dinge auszuprobieren können“, erklärt die Geschäftsführerin.
Veränderung wagen will sie auch im eigenen Unternehmen: „Wir müssen intensiv diskutieren, wie wir künftig Präsenz vor Ort und Remote-Arbeit am besten kombinieren können.“ Denn es habe sich gezeigt, dass manche Besprechung wesentlich effizienter abliefe, wenn sie per Videokonferenz stattfände. Das gelte etwa für Workshops zur Ideenfindung, in denen sonst viele schlecht lesbare Stichworte auf Karten gekritzelt würden. Schrieben stattdessen alle Teilnehmer strukturiert und leserlich in den Teams-Chat, gelangten sie wesentlich schneller zu einem Ergebnis.
Balance zwischen Freiheit und Regulierung
Auch Tromp hält es für unabdingbar, Neues auszuprobieren. Er warnt daher vor zu starker Regulierung im digitalen Raum: „Unternehmerische Freiheit muss sich entfalten können.“ Ganz ohne Leitplanken jedoch gehe es auch nicht, Tech-Giganten aus Nordamerika und Asien müssten etwa zur Einhaltung europäischer Regeln gezwungen werden – denn deutsche Händler träten bei ihren digitalen Aktivitäten zwangsläufig in Konkurrenz zu solchen ausländischen Plattformen.
„Wir müssen ein Verständnis dafür entwickeln, was im EU-Binnenraum reguliert werden muss und was nicht“, so Tromps Fazit. Angesichts der während der Pandemie verstärkten Online-Aktivitäten des deutschen Handels eine nun erst recht bedeutende Zukunftsaufgabe.
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