Über Jahre landete eine Flut von Handzetteln und Werbebroschüren in unseren Briefkästen, fast 70 Prozent der Haushalte beschäftigen sich damit intensiver. Aus Preis-, Nachhaltigkeits- und Aktualitätsgründen stehen gedruckte Werbemedien heutzutage jedoch zurecht auf dem Prüfstand. Die meisten Händler setzen stattdessen zunehmend auf eigene Apps, Social Media, Influencer oder Suchmaschinen- und Display-Werbung.
Gleich ob Werbebroschüre im Briefkasten oder Push-Nachricht über die App eines Händlers: Es ist wenig verwunderlich, dass eine Shoppingtour schon vorab stimuliert und organisiert wird. Neu dabei ist allerdings die Rolle des stationären Handels.
Sorgten sich Händler zu Beginn der E-Commerce-Ära, dass Menschen sich zuerst im stationären Handel informieren und dann die Produkte online kaufen, haben sich die Kräfteverhältnisse heute gedreht. Die Mehrheit der Einkäuferinnen und Einkäufer holt sich bereits vor dem stationären Geschäftsbesuch Inspiration, Produkt- oder Verfügbarkeitsinformationen im Netz.
Coronabedingte Click-and-Collect-Services haben den Trend der Verzahnung von digitalem und stationärem Handel zwangsläufig befeuert. Omnichannel-Konzepte sind Realität und führen zu einer völlig neuen Verknüpfung der Kundenkontakte: Zuhause informieren und dann im Laden kaufen; online reservieren und dann im Geschäft abholen; sich im stationären Handel über Produkte informieren, dann online kaufen und später im Laden umtauschen. Fest steht, dass der Handel und der POS von morgen sich zunehmend digitalisieren. Die Blockade vieler Händler, noch zwischen Online- und stationären Umsätzen zu unterscheiden, wird daher fallen.
NICE als Erfolgsformel im Handel
Der Trend, ein Einkaufserlebnis im physischen Geschäft erleben zu wollen, ist ungebrochen. Jedoch muss der stationäre Handel auch einen Besuch wert sein. Die Erwartungshaltungen an besondere Shoppingerlebnisse steigen. Der POS entwickelt sich weiter – heute gilt die NICE-Erfolgsformel: Navigation, Inspiration, Convenience, Education. Natürlich genießt der Handel noch immer die Vorteile von Optik, Haptik und persönlichem Service, aber die Ansprüche der Besucher wandeln sich. Der POS wird zu einem Point of Experience; Regalfläche zur Entertainmentfläche. Genau diese einmaligen Erlebnisse teilen Menschen in sozialen Medien und schaffen wiederum Anlässe, den POS zu besuchen. Je mehr Menschen über ihre POS-Erfahrungen sprechen, desto mehr Menschen werden angezogen.
Dem stationären Handel kommt also eine Schlüsselrolle zu: Er sollte von sich aus Grund genug sein, dass Menschen den Weg in die Stadt auf sich nehmen. Denn es gilt immer noch die Faustformel: Wer Menschen bewegen will, muss sie berühren. Handelserlebnisse sollten für einzigartige, emotionale Erfahrungen sorgen, die zu einer Loyalität jenseits der Vernunft führen. Natürlich gelten diese Postulate nicht in jedem Einkaufskontext: Erlebnis-, Plan- und Versorgungskauf haben unterschiedliche Motive. Aber mit der Attraktivität des POS steigt grundsätzlich die Verweildauer und die Höhe des Kassenbons.
Ein außergewöhnliches Beispiel, wie sich der Handel zu einem Magnet entwickeln kann, ist der NIKE Store in Paris. Er ist Erlebniscenter für Jugendliche, die dort selbst Schuhe designen dürfen. Er ist ein Raum, der fühlen lässt, wie die Marke ihre Kundschaft athletisch fördert. Da der Shop so beliebt ist, sind nicht nur lange Warteschlangen vorprogrammiert, sondern auch eine Anmeldung im Vorfeld des Besuches möglich. Menschen buchen Tickets für den Shopbesuch - so geht Inszenierung.
Von der Sofa-Inspiration zum stationären Erlebnis
Der Handel ist gut beraten, wenn er sich nicht aus dem angestammten Flächengeschäft, sondern aus seiner Markenrolle im Leben der Menschen definiert. Erfolgreiche Brands haben einen Standpunkt und verstehen, warum sie existieren. Wenn zum Beispiel Edeka von der Liebe zu Lebensmitteln spricht, ist dies eine Bestimmung – Neudeutsch Purpose. Diesen wollen Kunden nicht nur im stationären Handel erleben, sondern auch an all den Orten, wo sich die Menschen aufhalten. Ganz nach dem Motto: Fische, wo die Fische schwimmen.
Im realen Leben ist dieser Ort das Sofa, stellvertretend für den privaten Raum, in dem Pläne geschmiedet werden und die Menschen persönlichen Interessen nachgehen. Hier stöbern wir auf Contentportalen, in Medien oder folgen Influencern. Wenn es der Handelsmarke gelingt, hier eine Rolle zu spielen, ist der Weg zum Kaufabschluss nicht weit.
Baumärkte etwa leben daher von Impulsen, wie man zum Beispiel im Herbst die Hecken schneidet – solche Inhalte bringen Kundschaft. Einige Anbieter – darunter Breuninger, Zara oder Decathlon – machen den nächsten Stadtbummel noch attraktiver, denn ihre jeweiligen Webshops lassen mich wissen, wo der angesagte Schuh oder die wasserdichte Outdoorjacke in meiner Nähe vorrätig ist. Neben Navigation, Education und Inspiration hat eben auch Convenience einen erheblichen Einfluss auf die Online-Offline-Kundenbindung. Hier ist sie wieder, die NICE-Formel.
Fazit: Die Integration von Online- und Offline-Erlebnissen ist nicht mehr aufzuhalten. Für die Shop-Zuführung hoch relevant sind die Webseite einer Handelsmarke, Online-Marketing-Maßnahmen und digitale Services. Die Geschäfte eines Händlers durchleben gleichzeitig einen Wandel: Sie werden zu Erlebnisflächen, sind Orte der Inspiration und schaffen Kommunikationsanlässe, die dann wieder im Netz ein Echo finden. Erfolgreiche Händler denken und handeln daher Kanal-agnostisch und haben begriffen, dass der Stadtbesuch zuhause auf dem Sofa beginnt.
Christian Rätsch ist CEO der Kreativagenturen Saatchi & Saatchi sowie Leo Burnett und gehört zum Leadership Team der Publicis Groupe Germany. Der Marken- und Digitalexperte war zuvor bei der Beratung Batten & Company, dem IT-Player T-Systems und der Deutschen Telekom in unterschiedlichen Managementfunktionen tätig. Nebenberuflich ist er Blogger, LinkedIn-Influencer sowie n-tv-Markenexperte und beschäftigt sich mit Themen wie Geschäftsentwicklung durch Kreativität, Big Data und der digitalen Marketingtransformation.
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