Conrad ändert rund 17 000 Mal pro Woche die Preise. Als international agierendes Unternehmen ist die Conrad Electronic SE mit Landesgesellschaften in 16 Ländern Europas als großer Anbieter für Technik und Elektronik vertreten – dies nicht nur mit stationären Filialen, sondern auch im Versandgeschäft. Dort steht Conrad in weltweiter Konkurrenz zu anderen auf elektronische Produkte spezialisierten Onlinehändlern. Und alle ändern ihre Preise in einer Dynamik, wie man sie vom elektronischen Börsenhandel kennt.
Insbesondere bei gut vergleichbarer Ware muss Conrad also schnell reagieren können. Daher arbeitet der Händler mit einer Pricing-Software. Diese entwickelt Preisvorschläge auf Basis umfassender Datenanalysen. Preise der Wettbewerber, Preissensibilitäten der Verbraucher und demografische Daten gehen ebenso in die Berechnung ein wie unternehmensinterne Zahlenwerke, etwa Bestands- und Abverkaufsdaten. Hinzu kommen individuell definierte Regeln, nach denen die Preisvorschläge ermittelt werden – zum Beispiel eigene Kalkulationsziele, Rundungsvorgaben, Preisuntergrenzen oder Preisabstände innerhalb des Sortiments.
Die Software verarbeitet also Unmengen von Informationen. Den entscheidenden Schritt in Richtung Künstliche Intelligenz aber macht sie, indem sie auch die Auswirkungen ihrer eigenen Aktivitäten auf Umsatz und realisierte Handelsspanne einbindet. „Echte KI-Anwendungen sind in der Lage, ihr Wissen zu verallgemeinern und es auf unbekannte Daten anzuwenden, außerdem die Qualität ihrer Arbeit zu bewerten und daraus Schlüsse für künftige Entscheidungen zu ziehen“, erklärt Cetin Acar, IT-Experte und Projektleiter im Kölner EHI Retail Institute (siehe Interview).
Individualisierung von Produktangeboten
Dass solche Prozesse von Menschen begleitet, kontrolliert und korrigiert werden müssen, liegt auf der Hand. Bei Conrad wurden dazu Kenn- und Planzahlen definiert, anhand derer hauseigene Spezialisten Erfolg oder Misserfolg der Lösung permanent validieren. So wird das System Schritt für Schritt verbessert. „Alle KPIs sind positiv respektive über den Planwerten“, berichtet Ales Drabek, Chief Digital & Disruption Officer bei Conrad Electronic SE.
Generell herrscht bei den großen deutschen Handelsunternehmen weitgehende Einigkeit, dass Künstliche Intelligenz die Prozesse im Handel der Zukunft maßgeblich beeinflussen wird. Knapp 70 Prozent der vom EHI im Rahmen seiner jährlichen Trendstudie befragten IT-Entscheider zählen KI zu den wichtigsten technologischen Neuerungen der kommenden Jahre. 53 Prozent gehen davon aus, dass KI im Umfeld der vorausschauenden Datenanalyse (Predictive Analytics) eine tragende Rolle spielen wird.
Konsumtrends frühzeitig erkennen
Dasselbe gilt für die standortspezifische Warenallokation, also das Ziel, die richtige Ware zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zur Verfügung zu haben. Darüber hinaus werden KI-Anwendungen aus Sicht der Händler auch verstärkt zum Einsatz kommen, wenn es um die Nutzung der Kundendaten zur Personalisierung der Ansprache und zur Individualisierung der Angebote geht (siehe Infografik „Für welche Zwecke der Handel KI einsetzen will“).
So testet zum Beispiel dm Drogeriemarkt eine KI-basierte Lösung, die Kunden individuell anspricht und ihnen auf Basis ihrer Kaufhistorie maßgeschneiderte Couponangebote unterbreitet. Die Otto Group erprobt KI für Absatzprognosen, zur Preisoptimierung, für die Personalisierung der Kundenansprache sowie für die Individualisierung von Produktangeboten. Metro arbeitet unter anderem an Algorithmen, die ein dynamisches Haltbarkeitsdatum errechnen, um einem zu frühen Aussortieren noch einwandfreier Lebensmittel entgegenzuwirken. Der Drogeriemarkt-Betreiber Rossmann will KI-Lösungen für die Sortimentssteuerung einsetzen. Über die Auswertung von Suchanfragen bei Google und Amazon soll dabei eine selbstlernende Software in die Lage versetzt werden, Konsumtrends bis hinunter auf die Produktebene frühzeitig zu erkennen.
Nicht nur das Beispiel Conrad lässt erahnen: KI-Lösungen erweisen sich als hochkomplexe Big-Data-Projekte, die große technische und personelle Ressourcen sowie einen langen Atem erfordern. Um Einstiegsbarrieren abzubauen, testen die Händler meist in zunächst klar abgegrenzten Teilbereichen und im Rahmen überschaubarer Aufgabenstellungen.
Helfen, die hohen Hürden abzubauen, soll ein vom Bundeswirtschaftsministerium gefördertes Projekt namens Knowledge4Retail, das auch vom EHI Retail Institute mitgetragen wird. Ziel ist es, eine offene Plattform zu etablieren, die komplexen KI-Anwendungen dient. Die Open-Source-Plattform stellt dazu „semantische digitale Zwillinge“ (semdZ) von Einzelhandelsfilialen als Grundlage für verschiedene Anwendungen unterschiedlicher Anbieter bereit. EHI-Experte Cetin Acar: „Das Angebot soll helfen, die Rüst- und Aufbauzeiten sowie die Kostenbarrieren bei der Einführung von KI-Lösungen zu reduzieren.“
„Einsatz von KI ist unabdingbar“
Cetin Acar, IT-Experte und Projektleiter im EHI Retail Institute, über die Relevanz KI-basierter Lösungen für den Handel.
Lässt sich einschätzen, wie viele Handelsbetriebe schon mit Künstlicher Intelligenz arbeiten?
Hierzu gibt es keine offiziellen Erhebungen – Zahlen zu nennen, wäre reine Spekulation. Bei der letzten Studie „IT-Trends im Handel 2019“ gaben jedoch 69 Prozent der Befragten an, dass KI der wichtigste technologische Zukunftstrend ist. Führende Handelsunternehmen verschiedener Branchen und Vertriebskanäle arbeiten bereits intensiv an diesen Themen.
Um welche KI-Anwendungsbereiche geht es dabei konkret?
Bei den Themen Bestandsmanagement, Sortimentsgestaltung und dynamische Preisoptimierung sowie der personalisierten Ansprache der Kunden sehen die Handelsunternehmen aktuell die größten Potenziale.
Wie ordnen Sie die Relevanz von KI für den Handel in den kommenden Jahren ein?
Der Handel genießt aufgrund seiner hohen Beratungskompetenz das Vertrauen vieler Kunden. Künftig bedarf es aber sowohl bei den operativen Prozessen als auch bei Planungs- und Routineaufgaben technologischer Unterstützung, um bezüglich Produktpalette, Services und Preisgestaltung mit den Mitbewerbern aus den verschiedenen Vertriebskanälen mithalten zu können. Daher ist der Einsatz von KI im Handel unabdingbar.
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