Transformation 2020

„Jede Abteilung ist eine Innovationsabteilung“

Warum sich Kooperationen mit Start-ups lohnen, worauf es bei der Umsetzung ankommt und welche Formate für den Handel Sinn ergeben, erklärt Guido Zinke, Seniorberater und Projektleiter VDI/VDE Innovation + Technik.

Von Nadine Filko 17.05.2020

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In Deutschland gilt immer noch eher das Prinzip „start with how“. Stattdessen sollte es eher „start with why“ oder noch besser „start with who“ lauten.

Warum ist es für den Handel so wichtig geworden, mit Start-ups zu kooperieren?

Das ursprüngliche Beteiligungsinteresse an Start-ups ist mittlerweile einem Innovationsinteresse gewichen. Gut 150 der deutschlandweit rund 1 000 Unterstützungsangebote, die wir in unserer Studie „Trends in der Unterstützungslandschaft von Start-ups – Inkubatoren, Akzeleratoren und andere“ identifiziert haben, sind dem Handel zuzuordnen. Darunter finden sich alle großen Player – jedoch aus ganz unterschiedlichen Gründen. Edeka oder die Metro kooperieren beispielsweise mit Start-ups, um neue Märkte zu erschließen. Dabei geht es großen Handelsunternehmen nicht nur um ihr Kerngeschäft, sondern auch um daran angeknüpfte Bereiche – insbesondere um die Optimierung der Logistik, Distribution und Kundenorientierung. Dazu erhalten sie von Start-ups Wissen und Zugriff auf Technologien sowie Lösungskonzepte. Händler können mithilfe von Start-ups zudem Projekte bearbeiten, bei denen sie nicht sicher sind, ob sie Erfolg versprechen. Das Unternehmen kann so Risiken über Kollaboration aus dem Kerngeschäft in Innovationsprojekte auslagern. Eine Kooperation ist aber nur dann für alle Parteien interessant, wenn sie die Risiken fair teilen und alle Seiten profitieren.

Wo fange ich als Händler da an?

In Deutschland gilt immer noch eher das Prinzip „start with how“. Stattdessen sollte es eher „start with why“ oder noch besser „start with who“ lauten. Die ersten Fragen müssen deshalb lauten: Warum und für wen mache ich das? Und dann: An welcher Stelle ergibt es Sinn? Letzteres ist im Kontext digitaler Transformation relevant, da Konsumenten mit einer wachsenden Zahl an Schnittstellen konfrontiert werden. Diese Schnittstellen müssen einen Mehrwert bieten. Hier sehen wir ein fundamentales Unterscheidungsmerkmal von erfolgreichen Start-ups und etablierten Unternehmen: Erstere konzentrieren sich verstärkt auf den Kundennutzen und -willen und den Umgang mit gewonnenen Erkenntnissen. Händler müssen sich zudem die Frage stellen, was sie von einem Start-up lernen wollen. Wollen sie ganze Organisationsstrukturen umbauen oder brauchen sie beispielsweise eine App?

Ist das Ziel erst definiert, welche Kooperationsform wähle ich dann?

Wie eine Kooperation entsteht oder gelebt wird, ist ganz unterschiedlich. Maßgeblich sind die Größe und Bedeutung des Vorhabens, die zur Verfügung stehenden Ressourcen der Partner und natürlich das Risiko der Projekte. Eine allgemeingültige Regel, welche Kooperationsform zu welchem Projekt passt, gibt es aber nicht. Wer über Inkubatoren oder Acceleratoren nachdenkt, will mehr als eine lose Innovationskooperation. Bei einem Accelerator will er langfristig lernen, dauerhaft kooperieren und sich am Start-up beteiligen. Dann geht es zudem im Regelfall um mehr als ein Start-up. Will man nur geringe gegenseitige Verpflichtungen eingehen, wählt man eher einen Innovationshub, Hackathon oder Coworking Space als Format, um interessante Start-ups kennenzulernen. Auch offene Formate wie unternehmenseigene Labs, Hubs oder Units sorgen für einen einfachen Einstieg. Nicht zuletzt ist für den Aufbau einer Kooperation die Inanspruchnahme öffentlicher Förderungen denkbar, beispielsweise durch die „Smart Service Welten“ vom Bundeswirtschaftsministerium.

Der Accelerator ist also die Königsdisziplin?

Nein. Acceleratoren und Inkubatoren sind anspruchsvolle Projekte, die nur durch große Investitionen, geeignetes Personal und nicht zuletzt ein interessantes Angebot für Start-ups funktionieren. Ob dies der Fall ist, schauen sich Start-ups ganz genau an. Sie wissen zudem, dass die Anbieter vom Austausch mit ihnen profitieren und achten darauf, wie erfolgreich der Accelerator ist. Dabei gilt: Je Erfolg versprechender das Start-up, umso anspruchsvoller ist es in der Kooperation und umso weniger ist es bereit, etwa Unternehmensanteile abzugeben. Der Mehrwert, den ein Unternehmen bietet, sollte deshalb beim Aufbau eines Inkubators oder Accelerators im Fokus stehen. Auf der anderen Seite sind sehr gute Acceleratoren, wie etwa von Plug and Play, aufgrund ihres Renommees heiß begehrt, da Start-ups durch ihre Teilnahme einen positiven Signaleffekt am Wagniskapitalmarkt erwirken.

Was braucht es über das Renommee hinaus, um Start-ups anzuziehen?

Die stärkste Wirkkraft haben insgesamt immer noch die Kriterien Finanzierung, Netzwerk und mehr denn je: Internationalisierung. Diese Kompetenz ist unter deutschen Anbietern von Acceleratoren und Inkubatoren noch nicht sehr stark ausgebaut – insbesondere im Handel. Zudem suchen Start-ups Partner, die auf Augenhöhe mit ihnen arbeiten. Sie wollen Marktzugang, Erfahrung und Know-how. Derzeit entstehen weltweit – auch in Deutschland – zudem Mischformen aus verschiedenen Formaten. Dazu gehören immer mehr „Inculatoren“, die von der Geschäftsmodellentwicklung bis zum Markteintritt unterstützen. Und ein weiterer Trend ist zu beobachten: Immer mehr Unternehmen, gerade auch kleine und mittlere, tun sich zusammen, um gemeinsam Unterstützungsformate für Start-ups aufzubauen.

Welche weiteren Hürden müssen Händler noch überwinden?

Vor allem kleine und mittlere Unternehmen sprechen nicht immer dieselbe Sprache wie Start-ups. Erstere fühlen sich oft nicht ernst genommen und Letztere von den etablierten Unternehmen nicht verstanden. In vielen Unternehmen herrscht zudem keine besonders ausgeprägte Lernbereitschaft vor. Wenn ich aber mit externen Partnern wie Start-ups kooperieren will, muss meine Organisation einen Innovationshabitus an den Tag legen. Braucht es dafür Innovationsabteilungen? Definitiv. Aber eine Abteilung als isolierte Säule ist nicht genug. Sprechen wir über Disruption – und der Handel wird massiv disruptiert –, dann brauche ich eine Innovationskultur. Geschäftsführer und Vorstände müssen offen an neue Projekte herangehen und Kooperationen mit Start-ups, gerne auch mit Mitbewerbern und Branchenfremden, eingehen, um völlig neue Ideen zu entwickeln. Der Einstiegspunkt ist also die Kultur, nicht allein der strategische Wille – denn „Culture Eats Strategy for Breakfast“. In diesem Sinne ist bestenfalls jede Abteilung im Unternehmen eine Innovationsabteilung.

Wachstumsformate

Accelerator- und Inkubatorprogramme funktionieren als effektive Starthilfe für Start-up-Unternehmen. Wie sich die beiden Formate unterscheiden.

 

Inkubator (Brutkasten)

Definition: Format zur längerfristigen Ausarbeitung einer Idee  (langsame Entwicklung)

Geschäftliches Interesse: Zugang zu Technologien, Inkorporation von Wissen, Anteile

Investition: Coaching, Anschubfinanzierung, Vertrieb, Netzwerk, Marketing, Räumlichkeiten

Zeitpunkt: Frühphase des Start-ups

Zusammenarbeit: längerfristig

 

Accelerator (Beschleuniger)

Definition: Bootcamp zur Weiterentwicklung und Konkretisierung einer Idee (schnelle Entwicklung)

Geschäftliches Interesse: Zugang zu Technologien, Inkorporation von Wissen, Anteile

Investition: Coaching, Anschubfinanzierung, Vertrieb, Netzwerk, Marketing, Räumlichkeiten

Zeitpunkt: Frühphase des Start-ups

Zusammenarbeit: längerfristig (Format über mehrere Monate)

Was Start-Ups suchen

► Finanzierung

► Netzwerk

► Internationalisierung

► Glaubwürdigkeit

► Marktzugang

► Erfahrung

► Know-how

► einen Partner, der auf Augenhöhe mit ihnen zusammenarbeitet

Die Person

Guido Zinke ist Volkswirt und berät, evaluiert und forscht im Auftrag der EU-Kommission sowie der Bundesministerien für Bildung und Forschung (BMBF) und Wirtschaft und Energie (BMWi) zu innovations-, digital- und umweltpolitischen Fragestellungen. Seit 2017 ist er als Seniorberater und Projektleiter am iit in der VDI/VDE Innovation + Technik in den Themenfeldern Innovations- und Digitalpolitik tätig. Dort leitet er aktuell unter anderem die wissenschaftliche Begleitforschung zum Technologieprogramm „Smart Service Welt II“ des BMWi.

Das Unternehmen

VDI/VDE Innovation + Technik unterstützt als Projektträger und Berater ihre Kunden bei der Analyse, Organisation und Förderung von Innovationen und Technik. Für Bundesministerien, Landesministerien, die Europäische Kommission und weitere Auftraggeber bereiten die Mitarbeiter Entscheidungsgrundlagen vor, managen komplexe Projekte, organisieren Kontaktstellen und setzen Förderprogramme um. Im Fokus stehen gesellschaftliche und technische Themen wie Digitalisierung, Demografie, Gesundheit, Mensch-Technik-Interaktion, Mobilität, Energie, Elektronik, Wissenschaft, Bildung, Innovationspolitik, Clusterpolitik, Wirtschaft und Arbeit.

Schlagworte: Transformation, Start-up

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