Leise Fahrt voraus

Ein Forschungsprojekt hat erstmals die geräuscharme Nachtlogistik unter den streng geregelten deutschen Ernstbedingungen untersucht. Der Praxistest verlief erfolgreich. Doch die Rechtslage ist verfahren.

Von Ralf Kalscheur 15.05.2018

© Getty Images/ Charles Thatcher

Verstopfte Straßen, schlechte Luft, Lärm: Das innerstädtische Verkehrsaufkommen ist ein wachsendes infrastrukturelles und gesundheitliches Problem. Laut Verkehrsverflechtungsprognose des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur nimmt die Transportleistung auf der Straße zwischen 2010 und 2030 um 40 Prozent zu. Vor dem Hintergrund drohender Fahrbeschränkungen für Dieselfahrzeuge müssen sich Logistiker und Einzelhändler mit der Frage beschäftigen, wie sich künftig die verlässliche Warenversorgung urbaner Standorte bewerkstelligen lässt.

Gefragt sind wirtschaftlich tragfähige Konzepte, die schon in den nächsten Jahren dazu beitragen, die örtlich emittierten Luftschadstoffe auf ein verträglicheres Maß zu begrenzen und den Verkehrsinfarkt zu verhindern. Die Idee, Teile des Lieferverkehrs in die Abendstunden zu verlegen, ist dabei naheliegend und nicht neu. Nachts sind die Straßen leer. Die niederländische Regierung begann schon vor rund 20 Jahren damit, einen Standard für leise Lieferwagen und leises Equipment zu entwickeln. Seit 2004 können sich Logistikdienstleister von der Stiftung Piek-Gütesiegel für die Nachtbelieferung zertifizieren lassen.

In Deutschland sind die Lärmschutzauflagen allerdings deutlich strenger als bei den europäischen Nachbarn. Mit konventionellen Lieferfahrzeugen sind die hierzulande in den Nachtstunden geltenden Immissionsrichtwerte nicht einzuhalten.

In urbanen Mischgebieten darf zwischen 22 und 6 Uhr ein Lärmpegel von 45 Dezibel nicht überschritten werden; in Wohngebieten gelten 40 Dezibel als Obergrenze. Zum Vergleich: Das niederländische Piek-Zertifikat wird erteilt, wenn der Logistikprozess nicht mehr als 60 Dezibel verursacht. „Entscheidend ist, dass sich Anwohner nicht beschweren, weil sie sich in ihrer Nachtruhe gestört fühlen. Denn das sind in der Regel auch Kunden der Handelsfilialen, die diese natürlich nicht verärgern möchten“, ordnet Arnd Bernsmann die Aussagekraft der Richtwerte ein.

Ausweitung der Auslieferzeitfenster

Der Ingenieur am Dortmunder Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik, Abteilung Verkehrslogistik, gehört zu den Autoren der Studie „Geräuscharme Nachtlogistik für Innenstädte durch den Einsatz von Elektromobilität“ (GeNaLog). Das Forschungsprojekt hat erstmals die leise Nachtbelieferung unter deutschen Regularien und Gesetzen getestet. Unterstützt von der Rewe Gruppe, dem Discounter Tedi und dem Fruchthändler Doego, kommt die Studie im aktuellen Abschlussbericht zu einem eindeutigen Ergebnis: Die Nachtlogistik hat großes Potenzial.

Das liegt vor allem an der technischen Entwicklung. Nahezu alle großen Hersteller haben angekündigt, Elektro-Lkw in Serie auf den Markt bringen zu wollen. Mittelfristig ist damit zu rechnen, dass die Preise für die Elektrifizierung der Flotte sinken werden. „Es ist aber auch jetzt schon möglich, E-Lkw in einigen Einsatzfeldern wirtschaftlich einzusetzen“, so Bernsmann. Denn durch die Ausweitung der Auslieferzeitfenster in die Nachtstunden kann der Fuhrpark besser ausgelastet werden. Zudem werden Stauzeiten verringert.

In der Testphase des Forschungsprojekts ging es darum, Geräuschquellen zu identifizieren und technische Lösungen der Lärmreduktion zu entwickeln. Den laut piependen Rückfahrwarner kann man durch einen ersetzen, der „rauscht und zischt“, erklärt Bernsmann. Rollcontainer und Thermorollbehälter wurden mit geräuscharmen Rollen ausgestattet. Die technische Palette reicht von schallabsorbierenden Bodenbelägen bis zu Leiselauf-Kühlaggregaten. „Bauliche Voraussetzungen für die Nachtlogistik, wie Flüsterasphalt oder auch die Einhausung des Lieferbereichs, sollten bei Neubauten gleicht mitbedacht werden“, regt Bernsmann an. Zudem müssen die Fahrer darin geschult werden, etwa Türen leise zu schließen. Weil nachts kein Mitarbeiter in der Filiale ist, muss der Fahrer zudem Zugang zum Lager erhalten, was Haftungsfragen aufwirft.

Starre Verordnungen aus dem Weg räumen

Fünf Wochen lang belieferte Rewe 2017 drei Märkte im Kölner Stadtgebiet in den Nachtstunden mit Ware. Eine Postwurfsendung, versehen mit einer Beschwerdehotline, informierte die Anwohner. Ergebnis: Die gesetzlich vorgegebenen Richtwerte für Mischgebiete wurden bei allen Messungen eingehalten und teils deutlich unterschritten. Kein Nachbar sah Grund zur Klage. Die geräuscharme Nachtlogistik war für Rewe im Vergleich zur Taglogistik um sechs Prozent teurer. In vier Jahren könne die Nachtlogistik im direkten Vergleich schon wirtschaftlicher sein, schreiben die Forscher.

Als größte Hürde im Projektzeitraum, der bereits 2012 begann, erwies sich jedoch nicht die technische Herausforderung, sondern die bürokratische. „Lärmschutz ist ein Querschnittsthema, das verschiedene Verantwortungsbereiche innerhalb einer Verwaltungsorganisation betreffen kann, je nachdem, wo und wodurch Lärm entsteht“, beschreibt Bernsmann einen quälend langen Einigungsprozess mit der Stadt Köln, bevor diese nach verschiedenen runden Tischen eine Ausnahmegenehmigung für die testweise Nachtlieferung erteilte. Die Zuständigkeiten und Behördenbezeichnungen unterscheiden sich zudem in den Kommunen. „Innovative Konzepte passen nicht in das starre Korsett der Verordnungen und Rich­tlinien“, heißt es im GeNaLog-Abschlussbericht.

Logistikdienstleister werden erst in die leise Nachtlogistik investieren, wenn Rechtssicherheit besteht. Im nächsten Schritt erörtern die Fraunhofer-Forscher darum mit dem Umweltbundesamt die Möglichkeit, nach niederländischem Vorbild eine Zertifizierung für leise Logistikstandards zu entwickeln. Bis es so weit sein könnte, werden E-Lkw wohl schon kein ungewohntes Bild mehr in deutschen Städten sein.


Den kompletten Abschlussbericht des Forschungsprojekts GeNaLog sowie weitere Informationen finden Sie hier.

Interessierten steht eine innerhalb des Projekts entwickelte Datenbankzur Verfügung, die alle recherchierten technischen Lösungen für die geräuscharme Nachtlogistik umfasst.


„Wir sehen klares Potenzial“

Birgit Heitzer, Leiterin Logistik Rewe Group Konzern, will verstärkt auf Nacht­logistik setzen. Doch die rechtlichen Rahmenbedingungen sprechen dagegen.

Wie schätzen Sie das Potenzial einer geräuscharmen Nachtlogistik nach Abschluss des Forschungsprojekts ein?

Die mögliche Verlagerung von innerstädtischem Belieferungsverkehr in die Abend- und Nachtstunden trifft auf das Bedürfnis der Anwohner auf eine ungestörte Nachtruhe. Was auf den ersten Blick unversöhnlich scheint, passt doch zusammen, wie wir im Rahmen unseres Forschungsprojektes gesehen haben. An allen drei Teststandorten im Kölner Stadtgebiet haben wir unter den gesetzlichen Geräusch- und Emissionsvorgaben gelegen. Hierzu mussten zahlreiche Maßnahmen eingeleitet werden, um die Belieferung so geräuscharm wie möglich zu gestalten. Eine der Maßnahmen war insbesondere der Einsatz ­eines Elektro-Lkws. Insofern sehen wir durchaus ein klares Potenzial.

Welche Vorteile bietet die Verlagerung der Belieferungsverkehre in die Nacht?

Wir haben es vermehrt mit einer zum Teil maroden Infrastruktur zu tun. Immer mehr Brücken sind für den Schwerverkehr gesperrt. Die Milliardeninvestitionen in das Verkehrssystem sind absolut richtig, aber die damit verbundenen Baustellen verschärfen das Problem aktuell zusätzlich. In den Innenstädten erleben wir jeden Tag Verkehrsinfarkte und die Restriktionen für den Lkw-Verkehr nehmen zu. Da müssen wir uns die Frage stellen, wie eine verlässliche Warenversorgung der Märkte in den Innenstädten unter diesen Rahmenbedingungen in Zukunft noch funktionieren kann. Zumal kundenfreundliche Öffnungszeiten und ein steigender Anteil frischer Warengruppen sowie der Convenience- oder To-go-Angebote den Druck auf die Logistik erhöhen.

Wie groß ist der technische, bauliche, personelle und organisatorische Aufwand, um eine Filiale für die Nachtbelieferung zu qualifizieren?

Das kann man nicht pauschal sagen, das hängt vom Markt ab. Grundsätzlich rechnen wir mit Mehrkosten durch spätere Warenannahme oder die Veränderung von Abläufen im Lager. Es gibt definitiv Märkte, da sind bauliche Veränderungen programmiert, wenn wir eine Nachtbelieferung umsetzen wollten. Durch unsere Beteiligung am GeNaLog-Projekt haben wir zudem eine sehr gute und praxisnahe Übersicht über die Geräuschquellen.

Investitionsbereitschaft erfordert Rechts­sicherheit …

Ohne Rechtssicherheit wird die Nachtlogistik niemals ihr volles Potenzial ausspielen können. Ich hoffe sehr, dass wir hier zu einheitlichen Regelungen kommen, die über die jeweilige Stadt oder Kommune hinaus Gültigkeit haben.

Eignet sich das stadtverträgliche Logistikkonzept für jeden Marktstandort?

Wir müssen uns jeden einzelnen Markt daraufhin ansehen, da die einzuhaltenden Grenzwerte von der Lage des nächstgelegenen, schutzbedürftigen Raums abhängen und bauliche Gegebenheiten stark beeinflussende Faktoren darstellen. Es gibt daher keine Standardlösung.

Wie geht es weiter mit dem Thema Nachtbelieferung und welche Rolle könnte es in Zukunft für die Rewe Group spielen?

Wenn es allein nach uns gehen würde, dann ­sicherlich eine bedeutende Rolle. Aber derzeit fehlt es sowohl an den gesetzlichen Rahmenbedingungen als auch an den geeigneten Fahrzeugen.

Schlagworte: Fraunhofer Institut, Logistik, Rewe Group, Nachtlogistik

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