Interview

„Die Zukunft ändert jetzt ihre Richtung“

„The Power of Purpose“ lautet das Motto des Deutschen Handelskongresses. Frank Dopheide, Gründer der Agentur Human Unlimited, ist als Referent geladen. Gemeinsam mit Fabian Kienbaum, CEO des gleichnamigen Beratungshauses, hat er das Thema empirisch untersucht.

Von Mirko Hackmann 17.11.2020

© Udo Geisler

Purpose ist das Thema der Stunde. Frank Dopheide (l.) und Fabian Kienbaum beleuchten die Purpose-Idee als Innovationstreiber und produktive Kraft.

Herr Dopheide, Herr Kienbaum, das Thema Purpose ist in aller Munde: Für einige ist es ein wegweisendes Konzept, für andere lediglich ein von Unternehmensberatungen ersonnenes Buzzword. Woher rührt diese Polarisierung?

Dopheide: Purpose ist eine höchst produktive Kraft. Welches Potenzial Purpose hat, erschließt sich vielleicht am eindrucksvollsten, wenn man sich mit dem Urheber des Konzepts befasst, dem Wiener Psychologen Viktor Frankl. Dessen gesamte Familie ist im KZ umgekommen – allein er hat überlebt. Später untersuchte Frankl, ob es etwas gibt, das jene verbindet, die das leidvolle Leben im Lager überstanden haben. Er kam zu der Erkenntnis, es war der Sinn, der ihnen übermenschliche Kräfte verlieh. Nietzsche sagt: „Wer ein Warum hat, erträgt fast jedes Wie.“ Auf Organisationen übertragen, folgt daraus: Gelingt es, Mitarbeitern auf überzeugende Weise zu vermitteln, dass das tägliche Tun sinnvoll ist, wachsen sie über sich hinaus.

Kienbaum: Dass die Purpose-Idee zwiespältige Reaktionen hervorruft, liegt an ihrer Marketinghistorie. Procter & Gamble erkannte vor einigen Jahren: „It’s not about what people buy, it’s about what people buy into“ und machte sich daran, die eigenen Produkte zu überhöhen. Beispiel Windeln: Eltern wollen, dass es Babys weltweit gut geht. So kam man auf die Idee, aus den Verkaufserlösen von Pampers Impfungen in der Dritten Welt zu finanzieren und dies entsprechend zu bewerben. Später ahmten Unternehmen in aller Welt diese Strategie nach. Seither gilt Purpose als Vermarktungsthema und ist entsprechend vorbelastet, wenn es nun, durch große Investoren getrieben, erneut auf den Schreibtischen des CEOs landet.

Weil Anleger Purpose als eine Art Risikovorsorge für sich entdeckt haben?

Dopheide: In den vergangenen 15 Jahren orientierten sich nahezu alle großen Unternehmen an Milton Friedmans Postulat: „The business of business is business.“ Gesellschaftliche Verantwortung wurde zurückgestellt. Sie setzten auf gnadenlose Effizienzsteigerung. Daraufhin wuchsen zwar die Unternehmenswerte so rasant wie die Gehaltsschecks der Manager. Doch die Motivation der Mitarbeiter ging verloren. Die Diktatur der Zahlen führte zur Sinnentleerung der Arbeit und zum Verlust der inneren Bindung. Marktseitig mündete die Kostenfokussierung in Rabattschlachten, von denen die Kunden völlig irrewurden und ihre Loyalität aufkündigten. All das führt dazu, dass Unternehmen, deren Streben allein auf Profitmaximierung ausgerichtet ist, nicht nur Marktanteile einbüßen, sondern auch ihre gesellschaftliche Akzeptanz zu verlieren drohen.

Was glauben Sie, wie viel Prozent der Chefs in Deutschland erklären können, was mit Purpose gemeint ist?

Kienbaum: Laut unserer Studie können lediglich rund 45 Prozent, also weniger als die Hälfte der Studienteilnehmer, mit dem Thema etwas anfangen. Bei Start-ups sieht es meist besser aus, da sie erst kurz auf dem Markt sind und die Gründungsidee den Beteiligten noch sehr präsent ist. Bei alten Familienunternehmen oder gar Konzernen hingegen ist die Erinnerung an den Ursprungsmythos mit der Zeit häufig verblasst. Dabei trieben deren Gründer natürlich ebenfalls bestimmte Beweggründe. Mit Unterstützung von außen lassen sich diese herausschälen, indem man wie bei einer Zwiebel die äußeren Schichten entfernt, bis der Kern freiliegt.

Dopheide: Das ist ein Prozess, der durchaus einer Therapie ähnelt. Da gilt es, Vergessenes und Verdrängtes freizulegen, zur Selbstreflexion anzuregen und auch manches neu zu sortieren, zum Beispiel die Begriffe Purpose, Vision und Mission. Purpose ist der innere Antrieb, er beantwortet nach innen wie nach außen die Frage, wofür die Organisation da ist, welchen Zweck sie verfolgt. Hat ein Unternehmen seinen Purpose klar definiert, ist er eine ewige Energiequelle. Die Vision hingegen ist an die Mitarbeiter gerichtet und dient als langfristige Vorgabe, was die Organisation in einem bestimmten Zeitraum erreichen will. Auf dem Weg dahin braucht es wiederum kleinere Missionen, die mit Blick nach außen, also mit dem Fokus auf die Kunden, auf der operativen Ebene beschreiben, wie dies gelingen soll.

Was konkret bringt es Unternehmen, den eigenen Purpose herauszuarbeiten?

Dopheide: Es aktiviert sein inneres Vermögen. Das sind die Menschen mit ihren Fähigkeiten, ihrem Ideenreichtum, Kampfgeist, Durchhaltewillen und Teamspirit. Allesamt Größen, die sich in keine Excel-Tabelle pressen lassen, aber entscheidend zum Ergebnis beitragen. Zudem entsteht eine Art innerer Kompass für die Tausenden von Entscheidungen, die täglich in Unternehmen getroffen werden: Jeder weiß instinktiv, was richtig ist und was nicht. All dies steigert die Performance, jeder Einzelne – und damit das gesamte Unternehmen – arbeitet wirkungsvoller und erzielt bessere Ergebnisse. Die Überzeugung, Teil eines sinnhaften Ganzen zu sein, steigert überdies die Bindung und Zufriedenheit der Mitarbeiter. Ferner wächst die Akzeptanz bei den Kunden und in der Öffentlichkeit, wenn deutlich wird, dass ein Unternehmen einen höheren Zweck verfolgt, als möglichst viel Gewinn zu erwirtschaften.

Kienbaum: Für uns selbst überraschend war, wie stark Purpose als Treiber für die Innovationsfähigkeit wirkt. Denn er führt weg vom gewohnten Bestreben, das vorhandene Portfolio kleinteilig immer weiter zu optimieren und auszudifferenzieren. Nicht mehr zu fragen, was der Markt braucht, sondern zu überlegen, was die Welt braucht, eröffnet neue Möglichkeitsräume. Viessmann beispielsweise, seit über 100 Jahren Spezialist für Kälte- und Wärmetechnik, hat seinen Purpose jüngst an die Oberfläche gebracht: „We create living spaces for generations to come.“ Ein altes deutsches Familienunternehmen treibt nun also Digitalisierung und Energiewende technologisch voran, um Verantwortung für die Lebensräume zukünftiger Generationen zu übernehmen. Damit vergrößert sich der Aktionsraum vom Produkt zu Services und verknüpft beides obendrein mit dem Thema Nachhaltigkeit. Gelingt es über einen solchen Purpose, Werte wie Glaubwürdigkeit, Integrität und Identität zu verankern, steigert das die Attraktivität des Unternehmens auf ganzer Linie.

Wie gelingt es, den Purpose über alle Hierarchieebenen zu kaskadieren?

Dopheide: Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, für die es in der Regel 1 000 Tage braucht. Bei unserer Befragung von Fach- und Führungskräften stießen wir auf fünf Gaps: Information, Engagement, Endurance, Leadership und CEO-Committment sind die großen Lücken. Die entscheidenden Brückenbauer sind Kommunikation und HR; Treiber muss die Person an der Spitze sein.

Kienbaum: Es hilft, in den Zielvereinbarungen, bei der Incentivierung und auch schon beim Recruiting den Purpose systematisch zu verankern. Messbarkeit ist ebenfalls ein wichtiger Faktor, weshalb neben den bekannten Key-Performance-Indikatoren zusätzlich Key-Purpose-Indikatoren zu definieren sind, an denen sich sämtliche Abteilungen messen lassen müssen. Dadurch entsteht Verbindlichkeit.

Welche Handelsunternehmen haben ihren Purpose überzeugend formuliert?

Dopheide: Mir fällt als erstes unser Kunde Douglas ein. Bisher lautete der Claim: „Empower yourself to live your own beauty.“ Gewendet auf die Purpose-Frage, was die Welt braucht, gelangten wir zu dem Ergebnis: Jeder Mensch hat den tiefen Wunsch, in seiner Einzigartigkeit wahrgenommen und wertgeschätzt zu werden. Deshalb heißt es nun: „Open your eyes to the beauty of uniqueness, bring it to life and make life itself more beautiful.“ Ikea hat einen wunderbaren Purpose: „Create a better everyday life for the many people.“ Überzeugend sind auch Patagonia mit „We're in business to save our home planet“ und „We save people money so they can live better“ von Walmart.

Häufig heißt es, die Coronapandemie bringe die Konsumenten dazu, bewusster und qualitätsorientierter zu konsumieren. Erfahren Unternehmen mit einem klar formulierten Purpose nun deshalb tatsächlich mehr Akzeptanz?

Kienbaum: Neulich sprach ich mit Antje von Dewitz, der Chefin von Vaude, die bereits vor mehr als zehn Jahren das Thema Nachhaltigkeit in den Fokus gestellt hat. Outdoormode, dachte ich bis dahin, bediene ein typisch deutsches Segment mittelalter Bürgerlichkeit. Doch sie erzählte mir, dass Vaude immer mehr jene junge Zielgruppe gewinne, die zuvor Fast Fashion bei Anbietern wie Primark gekauft habe. Ob diese Entwicklung durch Corona befeuert wird, steht in den Sternen. Doch offenbar setzen sich jüngere Menschen verstärkt mit Umweltstandards, Produktionsweisen und Lieferketten auseinander, was am Ende ihren Kaufentscheid beeinflusst.

Dopheide: Wir merken, die Zukunft ändert jetzt ihre Richtung – und wir sind live dabei. Und je länger Corona dauert, desto nachhaltiger wird dieser Irrsinn des stetigen Wachstums hinterfragt. Kurzfristiges Gewinnstreben wird abgelöst durch das Primat, Unternehmen tief, qualitätsvoll und an langfristigen Zielen orientiert weiterzuentwickeln. Zudem wird das Streben nach Resilienz jenes nach Effizienz ablösen, weil wir uns alle erschreckt haben, wie anfällig allein auf Effektivität hin ausgerichtete Strukturen sind. Handelsunternehmen sollten sich darauf einstellen, dass Profit und Preis nicht allein die Zukunft sind, das Thema Werte hingegen weiter an Gewicht gewinnt.

Gerade der Handel leidet schwer an den Folgen der Coronapandemie. Ist jetzt die Zeit, sich erstmals mit Purpose zu beschäftigen, oder teilen Sie die Einschätzung des Organisationssoziologen Stefan Kühl, dass ein vorgegebener Zweck die in einer Krise notwendigen Handlungsoptionen einschränkt?

Dopheide: Es geht ja eben nicht um einen vorgegebenen Zweck. Der Sinn ist größer –und öffnet einen neuen Raum.

Kienbaum: Auf den ersten Blick erscheint es natürlich fragwürdig, in einem Unternehmen, das am Abgrund steht, über Purpose zu diskutieren. Aber die Frage nach dem Wofür zu beantworten, kann natürlich bei einer Neuausrichtung immens hilfreich sein und bei den Mitarbeitern ungeahnte Kräfte freisetzen, die es aktuell mehr denn je braucht.

Der deutsche Einzelhandel ist primär von kleinen und mittelgroßen Unter­nehmen geprägt, mehr als 90 Prozent davon sind in Familienbesitz. Sollte jeder Modeladen, jede Buchhandlung und jedes Schmuckgeschäft seinen Purpose herausarbeiten oder ist er traditio­nellen Familienunternehmen von Haus aus immanent?

Dopheide: Wir hatten das vermutet, unsere Studie deutet jedoch nicht darauf hin. In jeder Stadt erleben wir allerdings, dass es den einen Bäcker, Metzger, Wein- oder Blumenhändler gibt, der scheinbar allen anderen überlegen ist. Warum? Weil man das Gefühl hat, dass er in seinem Job Erfüllung findet. Wenn es ein Händler vermag, seinen Mitarbeitern – seien es drei, 30, 300 oder 3 000 – das Gefühl zu vermitteln: Was wir tun, ist wichtig, vielleicht gerade für unsere kleine Stadt, dann schafft das einen Wert, der von Online-Anbietern nicht einfach auszuhebeln ist. Zudem haben gerade in der Krise viele Händler Sprünge gemacht: Sie sind kreativer geworden in den Angeboten, in der Mobilisierung, bei bestimmten Services – und erfahren dafür viel Zuspruch.

Kienbaum: Regionalität und Lokalität werden definitiv noch weiter an Bedeutung gewinnen. Wenn man schaut, was sich in den USA aktuell zusammenbraut, wird deutlich, dass die Menschen sich immer stärker fragen, welche gesellschaftliche Rolle Konzerne wie Google, Facebook oder Amazon innehaben. Klar, sie sind super geführt. Aber sie drohen auch den Wettbewerb auszuhebeln und zahlen in einigen Ländern kaum Steuern. Wie lange ist das noch zu vertreten?

Im August 2019 hat der amerikanische Business Roundtable, ein Dachverband führender US-Unternehmen, in einem „Statement of Corporate Purpose“ mit dem Shareholder-Value-Prinzip gebrochen und entschieden, künftig auf Investitionen in Mitarbeiter, Umweltschutz und einen fairen Umgang mit Zulieferern zu setzen. Eine Blaupause für deutsche Dax-Unternehmen?

Dopheide: Beim Bankengipfel der Handelsblatt Media Group war im vergangenen Jahr Larry Fink zu Gast, mit einem Finanzvolumen von 7 800 Milliarden Dollar der größte Investor der Welt und Anteilseigner der meisten Dax-Konzerne. Am Vorabend hat er mit den CEOs jener Firmen, in denen er investiert ist, eine Stunde über Purpose geredet. Für ihn stellt fehlende gesellschaftliche Akzeptanz das größte Risiko dar. Unternehmenswerte von Unternehmen, die wie VW, Bayer oder Deutsche Bank gesellschaftlich und juristisch unter Feuer stehen, können schnell kippen – und über Nacht halbiert sich ein Vermögen. Unternehmerischer Erfolg muss für alle Stakeholder Sinn ergeben, nicht allein für die Eigentümer. In Deutschland werden zurzeit große Vermögen vererbt, und die Erbengeneration schaut sehr genau hin, ob der bestehende Anlageplan konform mit ihren Werten ist und zu ihrer Vorstellung passt, wie die Welt in Zukunft aussehen soll. Der Druck steigt.

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Der 54-seitige Studienbericht "Purpose. Die große Unbekannte" steht hier kostenlos zum Download bereit. 


Frank Dopheide, 1963 in Marl geboren, ist Gründer der Purpose-Agentur Human Unlimited mit Sitz in Düsseldorf. Zuvor war er Sprecher der Geschäftsführung der Handelsblatt Media Group und Gründer der Marken- und Strategieagentur Deutsche Markenarbeit.

Fabian Kienbaum, geboren 1984 bei Gummersbach, ist ein deutscher Unternehmensberater und geschäftsführender Gesellschafter der Kienbaum Consultants International GmbH mit Sitz in Köln.

Schlagworte: Deutscher Handelskongress, Power of Purpose, Interview

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