Eine Wohnung direkt über dem Supermarkt – das war früher die große Ausnahme. Und heute? Schon fast normal. In München-Giesing zum Beispiel, wo Aldi Süd eine Filiale mit 25 Eigentumswohnungen überbaute. In Potsdam, wo Aldi Nord dieses Jahr 34 Mietwohnungen über einer Niederlassung errichtete. Oder in Berlin-Pankow, wo 44 Apartments auf einem Lidl sitzen, verteilt auf sechs Etagen.
Genaue Zahlen gibt es noch nicht, doch der Trend weg vom Flachbau ist unverkennbar. Unter Kommunalpolitikern hat sich herumgesprochen, dass dies vor allem bei Neu- und Umbauten eine interessante Lösung ist – Mehrzweckgebäude fügen sich besser ins Stadtbild und nutzen die knappe Ressource Boden effizienter. „Der Handel muss kreativ werden, um den Ansprüchen gerecht zu werden“, sagt Christoph Scharf, Geschäftsführer und Head of Retail Services bei BNP Paribas Real Estate. „Eine Box mit Parkplätzen aufzustellen, reicht oft nicht mehr.“
Aufstockung erhöht die Frequenz
Im vergangenen Jahr sorgte eine Studie der TU Darmstadt und des Hannoveraner Pestel Instituts für Furore, die den Bau von 400 000 Wohnungen auf den Flächen von eingeschossigem Einzelhandel für möglich hält. „Ein Potenzial der Innenentwicklung, das beeindruckt“, schrieben die Autoren. Tatsächlich ist einiges in der Schublade: Aldi Süd entwickelt derzeit rund 20 Projekte selbst und weitere 20 gemeinsam mit Investoren. Aldi Nord spricht von 17 Vorhaben mit insgesamt bis zu 2 000 Wohnungen, alle im Großraum Berlin. Lidl teilt mit: „In allen Top-Sieben-Städten haben wir Projekte in der Planung oder im Bau.“
Es sieht nach einer klassischen Win-win-Situation aus: Städte erhalten dringend benötigten Wohnraum, und für Händler kann die Überbauung eine Trumpfkarte in der Konkurrenz um Standorte sein. Sie vergrößert auch die Verhandlungsmasse, wenn es etwa um Ladenflächen geht. Außerdem sorgen die Aufstockungen für zusätzliche Frequenz – und für Einnahmen: Investitionen in Wohnungen warfen in den vergangenen Jahren ansehnliche Renditen ab, professionelles Handling vorausgesetzt. Die Stiftungen, die das Immobilienvermögen der Discounter halten, sind erfahren. „Sie haben eine genaue Vorstellung von der Werthaltigkeit eines Investments“, sagt Immobilienexperte Scharf. Trotzdem sei der Beratungsbedarf groß, schließlich betreten die Retailer neues Terrain.
Die gute Nachricht: Es gibt einen Markt für diese Immobilien. „Früher wollten Investoren sortenrein einkaufen, heute sind sie flexibler und ziehen auch hybride Produkte in Erwägung“, sagt Udo Cordts-Sanzenbacher, Geschäftsführer und Co-Head Residential Invest-ment bei BNP Paribas Real Estate. Die Handelsunternehmen wissen also, dass sie das, was sie planen und entwickeln, auch wiederverkaufen können und ihr Kapital nicht auf unbestimmte Zeit binden. Aldi Süd etwa hält nach eigenen Angaben rund 20 Objekte mit Wohnungen im Bestand, andere werden rasch verkauft oder von vornherein gemeinsam mit Investoren entwickelt.
Die Furcht, niemand könne in der ungewöhnlichen Nachbarschaft wohnen wollen, ist offenbar unbegründet: „Bewohner von Verdichtungsräumen sind durchaus bereit, über Supermärkten zu wohnen, da sie die unmittelbare Nähe zu Versorgungseinrichtungen als Attraktivitätsmerkmal wahrnehmen“, heißt es in einer Studie des Bundesverbands Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen. Außerdem gibt es für die Nutzung auch Alternativen: Kitas, Fitnessstudios, Büros.
Übereinander von Leben und Einkaufen
Konsumtrends wie der Verzicht aufs Auto begünstigen die Entwicklung. „Die Marktanteile von wohnortnahen Supermärkten sind deutlich gestiegen“, sagt Michael Reink, HDE-Bereichsleiter Standort- und Verkehrspolitik. Weshalb es Discounter von Ausfallstraßen in Siedlungen zieht, mit erweitertem Sortiment. Doch auch klassische Vollsortimenter sind auf den Geschmack gekommen, vor allem die Rewe Group, die auch in Eigenregie entwickelt. „Dieses Übereinander von Leben und Einkaufen erachten wir als für die Stadtentwicklung sehr positiven Faktor“, schreibt das Kölner Unternehmen. Überdies spiele eine Rolle, dass in boomenden Großstädten eingeschossige Planungen „wirtschaftlich schwer realisierbar“ seien.
Während Aldi Nord und Lidl betonen, sich auf Ballungsräume zu konzentrieren, eröffnete Aldi Süd vor zwei Jahren auch im kleinen Hennef eine Filiale mit 25 Wohnungen auf dem Dach. „Der erste Schritt in eine neue Richtung“, wie das Unternehmen schreibt. So interessant ist das Modell, dass sich bei Immobiliendienstleistern auch Baumärkte melden, die mit dem Gedanken spielen, innerstädtische Filialen zu überbauen. „Das könnte die nächste Welle werden“, meint Scharf.
Handel als Bauherr
Ein Patentrezept zur Lösung der Wohnungsnot ist die Bebauung von Eingeschossern gleichwohl nicht. „Wir können lediglich einen Beitrag leisten“, sagt Christof Hake, Geschäftsführer und Koordinator des Arbeitskreises Filialentwicklung bei Aldi Süd. Schon allein, weil sich das Geschehen auf Neubauten konzentriert. Bei vielen Bestandsbauten lässt die Statik keine zusätzlichen Lasten in der notwendigen Größenordnung zu. Ebenso stehen die Lage – etwa in einem Gewerbegebiet – sowie Vorschriften zu Lärm und Abgasen einer Wohnnutzung häufig entgegen. In Konstanz stellte das Amt für Stadtplanung und Umwelt im Rahmen einer Prüfung fest, dass von 34 Supermärkten lediglich fünf für eine Aufstockung infrage kämen, „wovon zwei eher die Überbauung ebenerdiger Stellplatzflächen betreffen“.
Zudem dauern Planung und Bau eines gemischt genutzten Mehrgeschossers deutlich länger als die einer Supermarktbox, drei oder vier Jahre sind keine Seltenheit. Auch Lärmschutz, Wegeführung und der Einbau von Aufzügen machen die Projekte vergleichsweise komplex und teuer. „Nicht überall, wo ein solches Bauvorhaben technisch möglich wäre, ist es auch betriebswirtschaftlich und städtebaulich sinnvoll“, sagt Torsten Janke, Geschäftsführer Immobilien und Expansion bei Aldi Nord. Er befürwortet eine Mischnutzung nur „in sehr wenigen Einzelfällen“.
Ähnlich äußern sich seine Kollegen. „Es ist immer eine Einzelfallentscheidung“, sagt Aldi-Süd-Geschäftsführer Hake. Alexander Thurn, Geschäftsleiter Immobiliencontrolling und Projektentwicklung bei Lidl Deutschland, betont, dass man sich auf „ausgewählte Standorte“ konzentriere. Die Zurückhaltung hat Gründe: Die Unternehmen möchten vermeiden, an Standorten in die Pflicht genommen zu werden, an denen sich Mischnutzungen nicht lohnen. „Es ist eine Erwartungshaltung entstanden“, sagt Reink. So mancher Dorfbürgermeister will nicht verstehen, warum bei ihm nicht gehen soll, was in der nahen Großstadt möglich war.
Auch möchten die Unternehmen nicht als Immobilienkonzerne wahrgenommen werden. „Wir sind mit Leib und Seele Lebensmittelhändler, und das wollen wir auch bleiben“, sagt Lidl-Manager Thurn. Wohnraum zu schaffen, trägt zwar zum positiven Image bei – aber wehe, es kommt zu Mieterhöhungen. „Das Thema Wohnen ist hochemotional besetzt, vor allem in Berlin“, sagt BNP-Geschäftsführer Cordts-Sanzenbacher. Beliebt sind Kooperationen mit Partnern, die das Gebäude übernehmen, nachdem es nach Händlerwunsch konzipiert wurde. Das Objekt in der Berliner Prenzlauer Allee etwa verkaufte Lidl nach Baugenehmigung an die britische Aberdeen Asset Management.
Wird künftig aus Einzelfallentscheidungen eine echte Diversifikationsstrategie, mit Tochterunternehmen, die „Aldi Wohnen“ oder „Lidl Residence“ heißen? Davon sind die Konzerne zurzeit wohl noch weit entfernt. Aldi Süd immerhin will jetzt ein Expertenteam gründen, das die für den Filialbau zuständigen Regionalgesellschaften unterstützt. Klar ist: Je größer der Geschäftsbereich, desto sinnvoller könnte es eines Tages werden, Kompetenzen in einer eigenständigen Einheit zu bündeln.
Nur auf eine Idee ist die Branche erstaunlicherweise noch nicht gekommen: die Wohnungen vorzugsweise an Mitarbeiter zu vermieten. Dabei könnte das ein echtes Argument im War for Talents sein.
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Kommentare
Eine Frage, die auch in Ihrem Artikel nicht beantwortet wird: Was geschieht bei diesen Vorhaben mit den riesigen Autoparkflächen, die mit so einem Discounter-Markt einhergehen? Werden die auch überbaut? Oder werden sie in die Tiefe verlegt? Oder bleiben die Autoparkflächen einfach wie sie sind? Wie z. B. bei 'meinem' Aldi (Berlin Ruhleben)?
P. S. Bei dem o. a. Aldi wurde der gar nicht so alte Standard Zweckbau abgerissen und ein neues Sockelgeschoss für den Laden gebaut. Eine Genehmigung, das Sockelgeschoss mit Wohnungen auf zu stocken, bekam Aldi nicht, wegen einer in der Nähe vorbeilaufenden Industriebahnbrücke.
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