Die üppig blühenden Geranien auf dem Schulplatz sind vielleicht nicht jedermanns Geschmack. Doch Baudezernent Jan Juraschek weiß sie zu schätzen. „Die Blumenampeln an den Laternenmasten waren ein Vorschlag des Verschönerungsvereins im Zentrum“, sagt der studierte Stadtplaner. „Denn mit der gemeinsamen Pflege übernehmen seine Mitglieder auch Verantwortung für die Stadt.“ Die Stadt, seine Stadt, das ist Neuruppin in Brandenburg. Gut 31 000 Einwohner, knapp 80 Kilometer nordwestlich von Berlin gelegen, eingebettet in die flache, seenreiche Landschaft der östlichen Prignitz und bekannt als Geburtsort von Theodor Fontane und Karl Friedrich Schinkel. Mehr Brandenburg geht wahrscheinlich nicht.
Neuruppin gehört zu den acht Modellstädten, die mit ihren Ideen zur künftigen Entwicklung am Pilotprojekt „Meine Stadt der Zukunft“ des brandenburgischen Ministeriums für Infrastruktur und Landesplanung teilgenommen haben. Über die Laufzeit von zwei Jahren erhielten diese Kommunen jeweils bis zu 100.000 Euro vom Land, die bei einem Eigenanteil in Höhe von 20 Prozent für Stadtentwicklungsvorhaben in den Bereichen Klimawandel, Digitalisierung und Gemeinwohl zur Verfügung standen. Zugegeben, das klingt erst mal nach Goodwill-Symbolpolitik. Doch für eine Kommune wie Neuruppin sind sowohl 100.000 Euro als auch Klimaveränderungen, technologischer Wandel und gesellschaftliche Teilhabe handfeste stadtstrategische Einflussfaktoren.
Dass sie das Wirtschaften, das Zusammenleben und den Stadtraum selbst verändern, steht außer Zweifel. Welche Ansprüche haben die Bürgerinnen und Bürger in Anbetracht dieser Transformation an ihre gebaute Umwelt? Wie lässt sich eine in ihrer steinern-klassizistischen Struktur unbeschadet erhaltene Stadt an sich verändernde klimatische Bedingungen anpassen? Was ändert sich durch eine rasant fortschreitende Digitalisierung von wirtschaftlichen Prozessen im städtischen Raum – und welche Rolle kann der öffentliche Raum einer Stadt für den sozialen Zusammenhalt spielen?
Auseinandersetzung mit Zukunftsfragen
Dass es für diese Fragen keine Passepartout-Lösungen aus den Fachabteilungen des Landesministeriums in Potsdam geben kann, sondern dafür die Bedingungen vor Ort maßgeblich sind – diese Einsicht ist dem ganzen Projekt „Meine Stadt der Zukunft“ eingeschrieben. „Wir hatten zu Beginn der Legislatur im Jahr 2019 ein Gutachten zur integrierten Stadtentwicklung und zu den damit verbundenen Herausforderungen für die Kommunen in Auftrag gegeben“, erklärt Guido Beermann, Minister für Infrastruktur und Landesplanung in Brandenburg. „Daraus entstand die Idee für das Projekt, mit dem die Auseinandersetzung mit Zukunftsfragen aus den Verwaltungsstuben heraus in die Stadtgesellschaft getragen werden sollte.“
Das Konzept für die im ersten Coronajahr 2020 beginnende Pilotphase verband den Leitgedanken der Partizipation, also der breiten Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger, mit dem Ziel, Best-Practice Ansätze zu entwickeln, von denen nicht nur die teilnehmenden Städte, sondern möglichst viele Kommunen profitieren können. Zur Teilnahme waren Städte und städtisch geprägte Gemeinden Brandenburgs aufgerufen, die sich mit den vier konkreten Fragestellungen der Pilotphase – vitale Innenstadt, lebendige Quartiere, lokale Mobilität sowie Wärme- und Energiewende – auseinandersetzen und ihre jeweiligen Ansätze mit den Querschnittsthemen Klimawandel, digitale Transformation und Gemeinwohl in Verbindung bringen wollten.
„Die Umsetzung der jeweiligen Vorhaben blieb komplett den Städten überlassen“, so Minister Beermann. „Wir haben dabei auch die Kultur des Scheiterns berücksichtigt, im Bewusstsein, dass man aus Fehlern lernen kann.“ Eine Fachjury wählte dann aus 17 Bewerbungen acht über das ganze Bundesland verteilte Modellstädte aus, die mit ihren regionalen Besonderheiten zum einen die Vielfalt Brandenburgs spiegeln, hinsichtlich der wirtschaftlichen, demografischen und sozialen Herausforderungen aber auch viel gemeinsam haben.
Digitalisierung inklusive
Und damit zurück nach Neuruppin, das zu den Gemeinden des sogenannten weiteren Metropolenraums gehört und schon seit einigen Jahren auf eine stabile Bevölkerungsentwicklung und eine nach wie vor überraschend intakte Einzelhandelsstruktur blicken kann. Die Stadt liegt zwar nicht mehr im Berliner Speckgürtel, doch sie profitiert bei ihrer Bevölkerungsentwicklung vom Zuzug derer, die den Großstadtalltag zugunsten eines beschaulicheren Lebens in der über Schiene und Autobahn gut angebundenen, baulich und landschaftlich attraktiven Kreisstadt bewusst hinter sich lassen.
Baudezernent Jan Juraschek weiß natürlich, dass sich diese Zuzügler mitunter in stärkerem Maße als Alteingesessene für Belange der Stadtentwicklung engagieren und ihre Interessen vielleicht auch selbstbewusster formulieren. Deshalb ist ihm besonders daran gelegen, auch jene ins Boot zu holen, die sich nicht gehört fühlen oder ihren Unmut über bestimmte Entwicklungen vor Ort auf andere Art artikulieren: In den jüngsten Umfragen zur politischen Großwetterlage in Brandenburg kam die AfD auf eine Zustimmung von mehr als 30 Prozent.
Wie gewinnt man auch diese Menschen für ihre Stadt, noch dazu unter den – inzwischen fast vergessenen – Bedingungen einer globalen Pandemie? Nicht nur im Neuruppiner Rathaus setzten die Verantwortlichen auf die Digitalisierung. Auch im Ministerium von Guido Beermann wurde die Initiative nahezu vollständig digital abgewickelt. „Schon mit der Entwicklung der Formate und der Etablierung der Prozesse waren wir mittendrin im Thema Digitalisierung“, so Beermann. Aus der übergreifenden Fragestellung wurde sozusagen eine praktische Notwendigkeit. Und die Bürgerinnen und Bürger zogen mit.
Auf einer eigens angelegten interaktiven Stadtkarte konnten die Neuruppiner adressgenau nicht nur ihre Kritik an Ist-Zuständen oder Verbesserungsvorschläge anbringen, sondern auch miteinander diskutieren. Vom fehlenden Wasserspender auf dem zentralen Schulplatz über einen wünschenswerten Radweg bis hin zu einem Liegestuhlverleih und essbaren Bepflanzungen – die Resonanz aus der Stadtgesellschaft hat nicht nur den Baudezernenten Juraschek, sondern auch Bürgermeister Nico Ruhle überrascht, der mit seinem Amtsantritt 2020 auch das Projekt „Meine Stadt der Zukunft“ übernehmen musste. Er begreift es heute als Chance für eine strategische Wende in der Stadtentwicklungspolitik: weg vom Top-down-Verwaltungshandeln, hin zu einer partizipativen Planungskultur.
Die auf zwei Jahre befristete Pilotphase ist inzwischen abgeschlossen. Und nun? In Neuruppin hat die Stadtverwaltung den Austausch nicht abreißen lassen und nutzt die Dynamik der breiten Beteiligung sowie das echte Interesse vieler Einwohner an der künftigen Entwicklung des Ortes für die Erarbeitung eines neuen Leitbildes. Lokale Mobilität, der öffentliche Raum und der Klimawandel – diese Themen bestimmen den Vor-Ort-Diskurs. Unter dem Motto „Zukunft. Andersmachen“ fand bereits ein Bürger-Event statt, auf dem die Chancen einer nachhaltigen Stadtentwicklung diskutiert werden konnten. Das aktuelle Projekt „Dein Park“ steht beispielhaft für die Umsetzung abstrakter politischer Ziele in neue, ganz konkrete Qualitäten. Mit der Revitalisierung des Stadtparks und des Stadtwaldes durch Jugendliche hat Neuruppin einen neuen Freiraum mit Sport- und Erholungsangeboten, Verweilplätzen und Wegeverbindungen in den Ortsteil Alt-Ruppin gewonnen, der dem Bedürfnis vieler Einwohner nach mehr Grün entspricht.
Frühzeitige Bürgerbeteiligung
Auch im Stadtzentrum mit seiner klassizistisch-orthogonalen Struktur aus zweigeschossigen Bürgerhäusern entlang schnurgerader Straßen und großer, repräsentativer Plätze stehen Umbaumaßnahmen an. Mehr Aufenthaltsqualität, schattenspendende Bepflanzungen, kommunikationsstiftende Angebote im öffentlichen Raum – viele der Vorschläge, die im Rahmen des Projekts geäußert wurden, hat das Rathaus aufgegriffen und, wie Bürgermeister Ruhle sagt, „zur politisch verbindlichen Beschlusslage“ erklärt. Und das Thema Stadtgrün ist im Dezernat von Jan Juraschek inzwischen ein eigenes Sachgebiet.
Doch Hand aufs Herz: Hätte die Stadt all diese Maßnahmen nicht auch ohne die Initiative des Landesministeriums in Angriff genommen? Bürgermeister und Baudezernent sind sich einig: Das Projekt hat eine Form des Austauschs angestoßen, die es davor nicht gab, und dank des Einsatzes digitaler Kommunikationsmöglichkeiten auch Menschen erreicht, die andernfalls davon vielleicht keine Notiz genommen hätten. Die frühzeitige Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an Aufgaben der Stadtentwicklung erzeugt nicht zuletzt eine höhere Identifikation mit ihrer Stadt – einfach dadurch, dass die Menschen erleben, dass sie mit ihrer Kritik sowie mit ihren Verbesserungsvorschlägen und Ideen tatsächlich Veränderungen bewirken.
Dazu gehören neuerdings auch neongrüne Sitzmöbel auf dem Schulplatz, die anlässlich eines Sport-Aktionstags für Kinder und Jugendliche aufgestellt wurden. Die robusten, mobilen Kunststoffkörper, ein Import aus dem Kunstquartier Wien, sollen auf Wunsch der begeisterten Nutzer in Neuruppin bleiben. Und auch wenn es der in klassizistische Strenge ein bisschen verliebte Juraschek möglicherweise nicht gern hört: Die magentafarbenen Geranien in den Blumenampeln und die neongrün leuchtenden Stadtmöbel, das ist Schinkel auf LSD.
Vertiefende Informationen zum Projekt „Meine Stadt der Zukunft“ finden Sie unter:
msdz.brandenburg.de
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