Wissensnetzwerk Stadt und Handel

Qualifizierte Neugier

Ein bundesweites Studienprojekt widmet sich dem städtischen Wandel unter Krisenbedingungen. Die Studierenden der teilnehmenden Hochschulen gehen an verschiedenen Orten und aus sehr unterschiedlicher Perspektive den Voraussetzungen für eine Neuordnung der Innenstadt nach.

Von Cornelia Dörries 06.07.2022

© Flamingo Images/Stocksy

Neuordnung in Zeiten des Wandels: Nachwuchswissenschaftler setzen sich bundesweit zusammen, um Konzepte zu entwickeln, die die Stadtentwicklung weiterbringen.

Eigentlich reicht ein kleiner Buchstabe, um den vielen Einzelprojekten von sieben Hochschulen aus dem gesamten Bundesgebiet so etwas wie einen gemeinsamen Nenner zu geben. Denn trotz des provokanten Titels geht bei dem Ende April gestarteten interdisziplinären Forschungsvorhaben des „Wissensnetzwerks Stadt und Handel e.V.“ nicht ausschließlich um den Handel, sondern um das Handeln von Kommunalpolitik, Verwaltung und lokalen Akteuren zugunsten eines mancherorts schon havarierten sozialen Raums: der Innenstadt.

Es gehört zu den Vorzügen des umfassenden Studienansatzes, dass alle stadtrelevanten Fachdisziplinen – von Raum- und Stadtplanung, Urban Design und Architektur über Geografie bis hin zu Wirtschaftsgeografie – mit eigenen, betont empirisch angelegten Forschungsvorhaben vertreten sind und damit zugleich nahezu das gesamte Bundesgebiet abdecken. Worms, das brandenburgische Königs Wusterhausen, die nördlichen Innenstädte von Essen und Lörrach – es sind eher mittlere, unspektakuläre Standorte, die jedoch eins gemeinsam haben: den Bedarf nach neuen Entwicklungsimpulsen.

Langzeitbelichtung des öffentlichen Raums

So unterschiedlich die Einsatzorte, so fachspezifisch die Methodik. Die Projektteilnehmer aus dem Masterstudiengang Wirtschaftsgeografie der RWTH Aachen werden im Rahmen des Moduls „Geografische Handelsforschung“ ein sogenanntes Geländepraktikum absolvieren, ebenso die angehenden Geografen der Uni Köln, die für das einzige internationale Einzelvorhaben im Rahmen des Projekts in die nordspanische Stadt Santander reisen – den Blick auf die „Europäische Stadtentwicklung im Umbruch“ gerichtet. 

Dr. Martina Stepper leitet die Geschäftsstelle des Wissensnetzwerks Stadt und Handel und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Stadtplanung der TU Kaiserslautern. Sie gehört zu den Initiatoren des Forschungsprojekts und begleitet die wissenschaftliche Beschäftigung mit stadträumlichen Wirtschaftszusammenhängen schon länger. „Alle zwei Jahre führen wir ein hochschulübergreifendes Studienprojekt durch“, erläutert sie die Hintergründe.

„Es sind nicht jedes Mal dieselben Hochschulen dabei, doch es geht immer um die Zusammenhänge von Stadt und Handel.“ 2022 geht die hochschul- und länderübergreifende Langzeitbelichtung des öffentlichen Raums in ihre fünfte Runde, schon im Sommer sollen die ersten Zwischenergebnisse des aktuellen Jahrgangs vorgestellt und im Rahmen eines Wettbewerbs miteinander verglichen werden. Im Moment sind die Studierenden, wie es so schön heißt, noch im Feld unterwegs. Mal mit Fragebögen, mal mit Kamera und Kartierungsinstrumenten, doch in jedem Fall mit qualifizierter Neugier. 

Weitere Informationen zum Wissensnetzwerk Stadt und Handel unter: wissensnetzwerkstadthandel.de

Nibelungenstadt auf dem Prüfstand

Im Rahmen des Projekts „Was heißt hier Handel?“ entwickeln Julia Anschütz und Tom Gelbe aus dem Bachelorstudiengang Raumplanung der Uni Kaiserslautern ein integriertes Stadtentwicklungskonzept (ISEK) für die Kaiser- und Nibelungenstadt Worms. 

Dazu unterziehen sie gemeinsam mit sechs Kommilitonen die gesamte Innenstadtlage einer umfassenden Bestandsanalyse, bei der neben dem Handel auch die Mobilität, die städtebauliche Struktur, öffentliche Nutzungen sowie die Aufenthaltsqualität auf den Prüfstand stehen. Die Gruppe bezieht dabei unter anderem die Faktoren Klimaschutz, Energie sowie stadthistorisch überlieferte Potenziale ein.

Auf Basis der gewonnenen Ergebnisse formulieren die Nachwuchswissenschaftler ein Konzept, das der künftigen Stadtentwicklung eine Richtung weisen kann: weg von einer nach wie vor autogerechten, wirtschaftlich am versiegenden Tropf des stationären Einzelhandels hängenden Zentralität hin zu einer kleinteilig durchmischten Innenstadt. Wir fragen nach dem Stand der Dinge:

Sie sind aktuell mit einer Bestandsanalyse der Wormser Innenstadt beschäftigt. Was haben Sie ermittelt?
Julia Anschütz: Worms hat eine weitläufige Innenstadt mit einem breit gefächerten Einzelhandelsangebot und insgesamt wenig Leerstand. Großes Potenzial bietet der stadthistorische Bestand, also insbesondere der berühmte Kaiserdom und die noch teilweise erhaltene Stadtmauer. Hier könnte eine Entwicklungsstrategie ansetzen, die diese Qualitäten stärker betont und zum anderen für eine stärkere Dynamik in der Fußgängerzone sorgen müsste, die mehr Durchmischung und deutlich mehr Grün braucht.

Tom Gelbe: Die Fußgängerzone ist in ihrer jetzigen Struktur definitiv zu groß für Worms. Durchsetzt von sogenannten „Hitze-Inseln“, bietet sie insbesondere im Sommer keine gute Aufenthaltsqualität. Worms liegt in einer der heißesten Region Deutschlands und muss deshalb beim anstehenden Stadtumbau vor allem den Aspekt der Klimaanpassung berücksichtigen. Das ganze Thema Resilienz gehört in Worms auf die Tagesordnung, auch mit Blick auf den überdurchschnittlichen Energieverbrauch aufgrund der Vielzahl an ortsansässiger Industrie.“

Auf welche Beispiele würden Sie verweisen, wenn es um lebenswerte, gut funktionierende Städte geht? 
Tom Gelbe: „Ich persönlich halte die niederländische Stadt Delft für einen Ort, der schön, aber kein Idyll ist und fast überall eine hohe Verweilqualität bietet. Man braucht kein Auto, um einzukaufen, denn über das ganze Stadtgebiet verteilt gibt es kleine Läden. Mit dem Fahrrad erreicht man eigentlich alles in kurzer Zeit. Zusammengefasst würde ich sagen: Mittelgroße Städte mit nur wenig Pkw-Verkehr haben mehr Lebensqualität.

Hat die Großstadt mit ihrem 24/7-Angebot gerade für junge Menschen an Attraktivität eingebüßt?
Julia Anschütz: Ich habe schon in Perth gewohnt, einer Großstadt in Australien. Dort brauchte man kein Auto und konnte alles mit dem sehr gut organisierten ÖPNV erledigen. Aber ich bin eigentlich kein Großstadtmensch. Mir ist eine Mittelstadt lieber, wo ich regionale Produkte kaufen kann und schnell im Grünen bin. Dieses Lebensgefühl entspricht mir mehr als die Anonymität einer Metropole.

Schlagworte: Einzelhandel, Innenstadt, Standort

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