Interview

„Politisches Nichtstun hat den Klimadiskurs unnötig zugespitzt“

Über den Klimaschutz, eine fehlende Zukunftserzählung und die Abwesenheit des Kanzlers diskutieren der Vorsitzende des Bundestagsumweltausschusses, Harald Ebner (Grüne), die Sprecherin von Fridays for Future, Annika Rittmann, und die HDE-Geschäftsführerin für Nachhaltigkeit, Antje Gerstein.

Von Mirko Hackmann 01.08.2023

© Unsplash / Markus Spiske

Eine Welt - viele Herausforderungen: Zu den großen Aufgaben der Politik beim Thema Nachhaltigkeit und Klimaschutz gehört das Erwartungsmanagement.

Frau Rittmann, mit welchen Hoffnungen im Hinblick auf Ihre Anliegen haben Sie nach der jüngsten Bundestagswahl die Regierungsbeteiligung der Grünen verbunden – und wie fällt Ihr Fazit achtzehn Monate später aus?
Rittmann: Das Thema Klimaschutz war Teil des Wahlprogramms aller Regierungsparteien, insofern hatten wir tatsächlich Hoffnung, dass sich mehr bewegen würde als in den MerkelJahren. Die Blockadepolitik beim Klimaschutz ist jedoch nicht auf die Grünen zurückzuführen. Da ist die FDP die treibende Kraft, während SPD und Kanzler tatenlos zuschauen und hier und da Gesetze verwässern. Das ist das Kernproblem dieser Regierung. Gleichzeitig ist es eine Frage von strategischem Handeln und Durchsetzungsfähigkeit, so ein großes Projekt tatsächlich durchzusetzen. Die Grünen wirken strategisch einfach massiv überfordert mit der derzeitigen Regierungskonstellation und dem destruktiven Verhalten der FDP.

Herr Ebner, ein zentrales Klimaprojekt Ihrer Partei sorgte wochenlang für heftigen Streit. Offenbart die Debatte über das Gebäudeenergiegesetz primär die Uneinigkeit unter den Regierungsparteien? Oder zeugen die heftigen Emotionen womöglich auch davon, dass der Wille zum Klimaschutz bei den Deutschen endet, sobald es um ihren Keller und damit an ihr eigenes Geld geht?
Ebner: Wir sollten nicht vergessen, dass der russische Angriff auf die Ukraine zu einer völlig neuen globalen Situation geführt hat. Das hat die Menschen nachhaltig verunsichert. Die veränderte geopolitische Lage hat die Gesellschaft als Ganzes an einen mentalen Überforderungspunkt gebracht. Die Einschätzung einer „grünen Überforderung“ teile ich nicht, im Gegenteil: Ich bin sehr froh, dass wir Deutschland gut durch ein Krisenjahr und insbesondere einen Krisenwinter gebracht haben. Die Emotionalität, mit der über den Gesetzentwurf diskutiert wurde, basierte auch auf vielen Fehlinformationen, die darüber verbreitet wurden. Gerade in Zeiten der Verunsicherung sind Menschen empfänglich für falsche und populistische Informationen. Vielleicht wollten wir auch an der einen oder anderen Stelle zu viel auf einmal. Ich hoffe, dass jetzt mit dem parlamentarischen Verfahren endlich auch Sachlichkeit in die Debatte einzieht.

Aber die „Fehlinformationen“, von denen Sie sagen, dass Ihrer Einschätzung nach so viele im Umlauf sind, stammten in diesem Fall nicht primär aus den sozialen Medien oder von der Opposition. Vielmehr war es Ihr Koalitionspartner FDP, der 101 Fragen androhte und das Gesetz zurück in die Werkstatt schicken wollte ...
Ebner: Mehr Sorgen macht mir, dass Markus Söder und Hubert Aiwanger sich aus Wahlkalkül auf einer Demonstration mit Klimawandelleugnern gemeinmachen, sinnvolle Klimaschutzmaßnahmen diskreditieren und unsere Demokratie verunglimpfen.

Rittmann: Allerdings war es auch von der FDP nicht unbedingt zu erwarten, dass sie konstruktive Klimapolitik betreibt. Viel bedrückender finde ich deshalb in der aktuellen Konstellation die Rolle der SPD, die aus wahltaktischen Gründen niemandem auf die Füße treten will und genau dadurch die Menschen verliert. Die absolute Abwesenheit von Führung, in einer Koalition, in der sich die beiden übrigen Partner so konträr gegenüberstehen, ist nicht tragbar.

Gerstein: Ich glaube nicht, dass es allein an der SPD liegt. Es ist ein grundsätzliches Problem, dass wir mehr und mehr Menschen für den Klimaschutz zu verlieren scheinen – und das nicht allein in Deutschland. Europaweit bildet sich so etwas wie eine AntiAgenda2030, was besorgniserregend ist. In fast allen Ländern scheint Politik überfordert angesichts der Komplexität und Massivität der Aufgaben. Die Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft ist überfällig, auch wenn die damit einhergehende Regulierungswelle die Wirtschaft hart trifft. Allein aus Brüssel stehen gerade um die 100 Gesetzgebungsakte an, die für den Handel relevant sind. Natürlich kann man sagen, dass Transformation viel Regulierung bedingt. Aber das muss Politik im Sinne einer guten Gesetzgebung bewältigen, nicht durch die Wirtschaft überfordernde Gängelung. Das europäische Lieferkettengesetz beispielsweise greift tief ein in das Kerngeschäft von Unternehmen und schreibt ihnen vor, wie sie ihre Prozesse aufzusetzen und zu kontrollieren haben. Das ist sehr aufwendig und kostenintensiv. Mittelständler ohne ComplianceAbteilung können das gar nicht leisten.

Der Handel hat in den vergangenen Jahren – nicht zuletzt auf Druck der Politik und der Konsumenten – viel Geld ausgegeben, um nachhaltiger zu werden. Was sehen Sie als die wichtigsten Erfolge an, Frau Gerstein?
Gerstein: Der sichtbarste Erfolg war sicherlich unsere Selbstverpflichtung, auf Plastiktüten zu verzichten. Damit haben wir eine EU-Verordnung umgesetzt, ohne dass die damalige Bundesregierung ein Gesetz erlassen musste, und die EUVorgaben bereits im ersten Jahr übertroffen. Den Photovoltaikausbau haben wir dank der großen Dachflächen auf Handelsimmobilien und trotz zahlreicher bürokratischer Hürden ebenfalls im großen Stil voranbringen können. Auch im Bereich der Ladesäulen haben wir viel geleistet. Die in Brüssel aktuell diskutierte Gebäudeeffizienz-Richtlinie ist aber leider schlecht gemacht, denn sie gibt ein quantitatives Ziel vor, statt sich am jeweiligen Bedarf zu orientieren.

Im Rahmen des European Green Deal startet Brüssel viele Projekte und Initiativen, darunter die EU-Verpackungsverordnung. Die verstärkte Verwendung recycelter Materialien anstelle von Primärrohstoffen und die Unterstützung der Kreislaufwirtschaft sollen dazu beitragen, das Wirtschaftswachstum von der Nutzung natürlicher Ressourcen abzukoppeln. Ist die Verordnung dazu geeignet, Herr Ebner?
Ebner: Wir müssen im Blick behalten, dass eine bloße Entkopplung bei anhaltender Steigerung der Ressourcennutzungsintensität nicht das Problem löst, dass wir permanent die planetaren Verbrauchsgrenzen überschreiten. Trotzdem gilt es, irgendwo anzufangen und zu fragen: Wie müssen Verpackungen und Produkte designt sein, um wieder in den Kreislauf zurückgeführt werden zu können? Wenn wir uns anschauen, wie viel Papier und Plastik für Verpackungen nur einmalig verwendet werden, sehen wir schnell, dass wir besser werden müssen. Es gilt einheitliche Mehrwegund Rücknahmesysteme zu etablieren — und das auch im Getränkebereich, wo die zunehmende Vielfalt der Flaschenformen sinnvolle Mehrwegsysteme erschwert. Wir brauchen stattdessen die Einführung von flächendeckenden Poollösungen und regionalen Abfüllinfrastrukturen. Das verhindert lange Transportwege und ist gut für die Ökobilanz.

Gerstein: Wir haben Mitglieder, die sehr erfolgreich auf Einweg und Recycling setzen. Unter bestimmten Rahmenbedingungen kann die Ökobilanz beim Einwegleergut besser ausfallen als die des Transports schwerer Mehrwegflaschen auf langen Wegen durch Deutschland. Die großen technologischen Fortschritte im Bereich Recycling führen dazu, dass PETFlaschen fast zu 100 Prozent wiederverwertet und im Kreislauf verbleiben können. Daher ist es mein Petitum, beide Systeme parallel bestehen zu lassen. Wir sind sehr bereit, zu tun, was wir tun können, um Verpackungen und Verpackungsmüll zu reduzieren. Aber gleichzeitig möchten wir die funktionierenden Pfand- und Rücknahmesysteme nicht aufgeben.

Ebner: Von 100prozentiger Wiederverwertung im PETBereich sind wir leider weit entfernt, und der Rohstoffbedarf für neue PET-Flaschen ist nach wie vor hoch. Die Ökobilanzberechnungen lassen außer Acht, dass regionale Wiederverwertung deutlich besser abschneidet.

Tief eingreifen will die EU mit ihrer Textilstrategie auch in die Modebranche. Die Ökodesign-Verordnung für nachhaltige Produkte sieht vor, verpflichtende Mindestwerte für die Verwendung recycelter Fasern in Textilien festzulegen und dafür zu sorgen, dass die Produkte länger nutzbar sind und leichter repariert und recycelt werden können. Wird Nachhaltigkeit damit zum neuen Modestandard?
Ebner: Ich hoffe es. Leider ist das Problem vielschichtig. Nicht nur die Textilienverschwendung an sich, sondern auch Einwegtextilien und Fast Fashion sind problematisch. Letztlich lässt die Schnelllebigkeit der Mode an sich die Berge kaum getragener Textilien anwachsen, die am Ende im Müll landen. Ebenso wenig nachhaltig ist es, dass nicht verkaufte oder umgetauschte Ware häufig vernichtet wird, um Platz für die Waren der nächsten Saison zu schaffen. Wir müssen uns ernsthaft fragen, ob wir als Gesellschaft weiterhin Abermillionen Tonnen wertvoller Rohstoffe derartig verschleudern wollen. Da braucht es Rahmenbedingungen, damit sich das für Hersteller und Handel nicht mehr lohnt.

Gerstein: Wir führen die Debatte natürlich bei uns intern, und keines unserer Mitgliedsunternehmen vernichtet wissentlich Textilien. Im Rahmen der EUTextilstrategie sind vielfältige Maßnahmen auf dem Weg, die den ökologischen Wandel der Branche vorantreiben – was wir ausdrücklich begrüßen. Dazu zählt die Revision der Verordnung zum Textil-Labeling in Form eines digitalen Produktpasses. Aktuell können Kleidungsstücke, aus denen das Etikett herausgeschnitten wurde, kaum recycelt werden, weil man schlicht nicht weiß, was drin ist. Mithilfe der digitalen passgenau recyceln und wieder den jeweiligen Kreisläufen zuführen. Um zu hundertprozentig geschlossenen Kreisläufen zu kommen, braucht es allerdings global inheitliche Standards.

Vor allem bei jungen Konsumenten beliebt sind Super-Fast-Fashion-Firmen wie Shein, die bis zu 6 000 neue Artikel pro Tag anbieten, größtenteils aus Plastik und zu Schleuderpreisen. Wie ernst ist es Ihrer Generation tatsächlich mit dem Klimaschutz, Frau Rittmann?
Rittmann: Entscheidend für das konkrete Handeln ist oft, was die jeweiligen Vorbilder vorleben. Wenn es als cool gilt, jede Woche neue Kleidung zu tragen, und die Wirtschaft solche Trends durch Influencer befeuert, dann ist die Hürde, das zu hinterfragen, hoch. Noch viel wichtiger ist der gesellschaftliche Diskurs, also wie darüber im Alltag gesprochen wird. Mit Ehrlichkeit und Transparenz erreicht man die Menschen besser als durch abstrakte Verordnungen. Ob jemand ein T-Shirt aus Bio-Baumwolle oder Polyester kauft, entscheidet am Ende im Zweifel hauptsächlich der Preis. Insofern sind Konsumentscheidungen weniger eine klimapolitische Frage als eine sozialpolitische. Ehrlicherweise muss man jedoch sagen, dass wir natürlich nicht endlos weiterkonsumieren können wie bisher. Die entscheidenden klimapolitischen Fragen betreffen aber nicht individuelle Kaufentscheidungen, da geht es vielmehr um Dinge wie fossile Unternehmen, Energieerzeugung und Verkehrsstruktur.

Statt beim Klimaschutz und bei der Energiewende strukturelle Veränderungen in den großen Sektoren voranzutreiben, hat man das Thema in der Vergangenheit vor allem den Verbrauchern aufgebürdet. Dadurch wurde es unnötig moralisch aufgeladen. Fällt uns diese gesellschaftliche Spaltung jetzt auf die Füße?
Ebner: Genau das ist der Fall. Deshalb fand ich die Kampagne von Julia Klöckner so falsch, die propagierte: „Du entscheidest“. Da wurde suggeriert, Politik habe damit nichts zu tun und die Verantwortung liege allein bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern. Das Gegenteil ist richtig: Es braucht politische Gestaltung für nachhaltigen Konsum, denn nachhaltige Produkte müssen für Verbraucher und Verbraucherinnen die einfachere, bequemere, plausiblere und im Idealfall sogar günstigere Wahl sein.

Rittmann: Der Diskurs ist auf jeden Fall unnötig zugespitzt durch langes politisches Nichtstun und Verschiebung der Verantwortung auf die Konsumenten und Konsumentinnen. Hätte man früher angefangen zu transformieren, müsste der Prozess jetzt nicht so schnell vonstattengehen. Wir müssen unbedingt wieder mehr miteinander sprechen, um als Zivilgesellschaft gemeinsam mit der Politik die Rahmenbedingungen zu verändern. Das ist eine entscheidende Herausforderung für unser aller demokratisches Zusammenleben.

Statt Verboten von oben sollte es also eine gesamtgesellschaftliche Diskussion geben …
Ebner: 
Gesellschaftlicher Dialog ist wichtig und muss neben Transformation zu Klimaneutralität auch die Art von Wachstum mit einschließen – insbesondere Wege hin zu mehr qualitativem Wachstum.

Gerstein: Wenn die Kunden mehr ausgegeben, weil die Produkte hochwertiger und teurer werden, kann sich das durchaus ausgehen. Problematischer finde ich es, wenn über Plattformen Billigsttextilien und Elektronikartikel in den europäischen Markt gelangen, die nicht den EU-Produktstandards entsprechen. Um das zu verhindern, müssten die Zollbehörden massiv gestärkt werden. Entscheidend bei allen Regulierungen sind für uns faire Wettbewerbsbedingungen, also dass für alle dieselben Pflichten gelten – und deren Einhaltung auch überprüft wird.

Ebner: Anders kann ein Binnenmarkt nicht funktionieren, und Gesetze gelten selbstverständlich auch im Versand- und Onlinehandel. Eine der großen Aufgaben der Politik beim Thema Nachhaltigkeit und Klimaschutz ist das Erwartungsmanagement. Doch kaum ein Politiker spricht offen den notwendigen Verzicht und die unabwendbaren Zumutungen an, die sich erst in Jahrzehnten positiv auswirken werden. Ein Fehler? Ebner Da würde ich nicht zustimmen. Es ist nur leider so, dass die Wahrheit nicht gerne gehört wird und sich viele deshalb lieber einen schlanken Fuß machen. Als grüner Politiker weiß ich aus eigener Erfahrung, welch hohen Preis ehrliche Debatten haben, man denke an Ernährungsfragen. Das ist ein Dilemma der Politik.

Bräuchte es nicht ein breit angelegtes Narrativ, eine Art positive Zukunftserzählung, um der Bevölkerung die Notwenigkeit von Einschränkungen und Mehrausgaben schmackhaft zu machen?
Rittmann:
Das stimmt. Gleichzeitig dringt psychologisch die negative Erzählung, Menschen würde vermeintlich alles weggenommen, viel mehr durch. So funktionieren teilweise auch mediale Erzählungen. Letztlich fehlt es aber insbesondere der Regierung an einer größeren Vision, die es für einen demokratischen und gemeinsamen Diskurs unbedingt bräuchte. Es wäre an der SPD als größtem Partner und Kanzlerpartei, die Diskussion anzustoßen und zu kommunizieren, um die Menschen wieder mitzunehmen.

Schlagworte: Umweltpolitik, Energiepolitik, Nachhaltigkeit, Klimaschutz

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