Herr Minister Habeck, in ihrem ersten Jahr hatte die „Fortschrittskoalition“ angesichts von Energiekrise, Krieg und Inflation vor allem damit zu tun, das Land zusammenzuhalten. Was wollen Sie 2023 gemeinsam mit den Koalitionspartnern erreichen?
Habeck: Wir haben im vergangenen Jahr durch entschlossenes Handeln die Lage beherrschbar gemacht. Dieses Land hat 2022 mit großer Geschlossenheit gezeigt, was es kann, wenn die Lage ernst ist. Wir haben die Speicher gefüllt, eine neue Infrastruktur für schwimmende Flüssigerdgasterminals aufgebaut, mit Hilfen für die Wirtschaft und die Verbraucherinnen und Verbraucher zumindest einige Preissprünge abgefangen. Diese Entschlossenheit müssen wir in das neue Jahr mitnehmen. Wir müssen die Kraft haben, neben dem weiter notwendigen Krisenmanagement den Blick konsequent nach vorn zu richten. Der Ausbau erneuerbarer Energien steht dabei im Fokus.
Erneuerbare Energien sind längst zum Standortfaktor geworden. Den Rahmen haben wir im vergangenen Jahr geschaffen, jetzt kommt es auf die Umsetzung an. Die gelingt nur gemeinsam: Bund, Länder, Kommunen – alle Ebenen sind gefragt. Und natürlich gibt es eine zentrale Lehre, die wir sowohl aus der Coronazeit wie aus dem vergangenen Jahr ziehen müssen: Sie lautet Diversifizierung. Wir müssen unsere Lieferketten weiter diversifizieren, im Energiebereich, bei Rohstoffen und anderen wichtigen Produkten und Gütern unseres Alltags- und Wirtschaftslebens. Der Einzelhandel geht hier mit gutem Beispiel voran.
Herr von Preen, trotz Dauerkrise ist im Handel der befürchtete ganz große Crash ausgeblieben. Das Gros der Unternehmen hat sich kreativ und wandlungsfähig gezeigt und zudem von staatlichen Hilfen profitiert. Wie ist der Handel für das laufende Jahr aufgestellt?
von Preen: Richtig ist, dass sich viele Handelsunternehmen in den vergangenen Jahren im Umgang mit den Pandemiefolgen und der anschließenden Energiekrise sowie sprunghaft steigender Inflation extrem flexibel gezeigt haben. Die Branche hat bewiesen, dass sie Krise kann und zusätzlich verantwortungsvoll in die Zukunft investiert. Die staatlichen Hilfen waren und sind dabei sicherlich als Nothilfen sehr wichtig, auch wenn sie noch nicht in allen Details auf die Bedürfnisse des Einzelhandels zugeschnitten sind. Insgesamt liegt vor vielen Einzelhandelsunternehmen trotzdem ein schwieriges Jahr. Denn die Krise ist noch nicht vorbei, wir werden auch 2023 weiterhin hohe Energiepreise und eine höhere Inflation sehen als früher gewohnt.
Das hat spürbaren Einfluss auf die Kauflaune. Das HDE-Konsumbarometer entwickelt sich erfreulicherweise positiv, dennoch bleibt es auf einem Niveau unterhalb der Zeiten vor den Coronalockdowns. Bei den Umsätzen im Einzelhandel werden wir deshalb in diesem Jahr wohl erneut ein reales Minus hinnehmen müssen. Das dürfte unserer Prognose nach bei drei Prozent liegen. Nach wie vor besteht also ein für viele Unternehmen kompliziertes Umfeld. Insbesondere bestehen weiterhin große Unsicherheiten hinsichtlich des weiteren Verlaufs des russischen Krieges in der Ukraine und die entsprechenden Folgen.
Herr Habeck, ob Weiterbetrieb von Atommeilern, Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine, Klimaschutz im Verkehrssektor oder Schuldenbremse – bei etlichen Themen ist die Ampel uneins. Noch dazu zwingen vier anstehende Landtagswahlen zu parteipolitischer Profilierung. Wie will die Regierung ihre ambitionierten Ziele in Sachen Infrastruktur, Digitalisierung, Bildung und Energiewende trotzdem erreichen?
Habeck: Einspruch. Das kann ich so nicht stehen lassen. Ja, es gab schwierige Debatten, aber es sind und waren auch sehr ernste Themen. Die Ampel hat über viele schwierige Fragen entschieden und hat sich im Ergebnis verständigt. Wir haben mit der Lieferung von Kampfpanzern jetzt eine große Entscheidung getroffen, die der Ukraine helfen wird. Aber das ist kein Grund zum Jubeln. Es ist eine Entscheidung, die man gut abwägen musste. Jede Leichtigkeit ist fehl am Platz. Und in Bezug auf die innenpolitischen Themen, die Sie nennen: Ja, da gibt es auch in diesem Jahr viel zu tun. Wir dürfen die Dinge nicht halbherzig angehen, so wie es in den vergangenen fünf bis zehn Jahren leider bei einigen Themen der Fall war, sondern mit ganzer Kraft und Entschlossenheit. Fachkräftesicherung und - einwanderung, die Beschleunigung der Energiewende und schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren: Daran wird die Wettbewerbsfähigkeit unseres Standorts gemessen.
Herr von Preen, welche zentralen politischen Weichenstellungen erwartet die deutsche Wirtschaft von der Koalition?
von Preen: Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz hat ja bereits angekündigt, dass die Administration in Zukunft deutlich unternehmerischer und flexibler agieren wird. Die Transformation ist hier in vollem Gange und wir unterstützen dies gerne. Wir müssen raus aus dem Klein-Klein, hin zu einer Wirtschaftspolitik mit mehr Vertrauen in Unternehmertum. Wohlstand ist Folge von Wettbewerb. Die Handelsunternehmen haben in den vergangenen Jahren bereits viel investiert. Jetzt geht es darum, den Raum zu bekommen, weiterhin kreative Ideen und Innovationen umzusetzen. In den aktuellen Krisen hat die Politik viele neue Regeln gesetzt. Dies wieder zurückzudrehen und aus dem Krisenmodus in der Gesetzgebung herausrauszukommen, hilft uns als Handel, neue Spielräume für die Gestaltung der unternehmerischen Zukunft zu erhalten.
Bei der Novelle im Kartellrecht muss über die Eingriffsmöglichkeiten in den Wettbewerb mit Augenmaß diskutiert werden. Wir brauchen als Wirtschaft Gestaltungsfreiheit, sichere Leitplanken und klare Rahmenbedingungen. Ein gutes Beispiel ist die zukunftsgerichtete Energiepolitik, die die neue Regierung aktiv angeschoben hat und die sich in Umsetzung befindet, sowie eine daraus folgende Versorgungssicherheit zu bezahlbaren Preisen.
Habeck: Also, mit Verlaub, der 200-Milliarden- Euro-Fonds für die Gas- und Strompreisbremse, die Uniper-Rettung, ohne die Hunderte Stadtwerke wahrscheinlich ins Straucheln gekommen wären und damit auch die Wärmeversorgung vieler Einzelhändler, die über 200 Milliarden Euro im Klimatransformationsfonds oder eine Milliarde Euro für innovative Start-ups für zukunftweisende Technologien – das ist das Gegenteil von Klein-Klein. Wir sind dabei, grüne Leitmärkte aufzubauen, Lieferketten und Rohstoffimporte neu zu diversifizieren und Wirtschaft und Gesellschaft bis 2045 klimaneutral zu machen. Aber ja, wir brauchen den konsequenten Blick nach vorn. Der Blick zurück und das Verharren in alten Gepflogenheiten lähmt. Resilienz und Diversifizierung sind absolut notwendig. Und ich hoffe, das haben alle verstanden. Wir haben zu lange und zu einseitig auf billiges Gas aus Russland gesetzt und im letzten Jahr die Folgen in aller Deutlichkeit vor Augen geführt bekommen.
Herr von Preen, wie muss sich der Handel in Sachen Sourcing neu positionieren?
von Preen: Bereits in der Coronakrise haben sich viele Unternehmen neu und resilienter aufgestellt. Die Zahl der möglichen Lieferanten wurde erhöht, neue Lieferketten wurden etabliert. Bei vielen Produkten wurden die Logistikketten verkürzt, es kommen vermehrt regional nähere Lieferanten zum Zuge. Die Coronajahre haben deutlich gemacht, wie schnell Lieferprobleme entstehen können, wenn es in China als einem großen Produktionsland für alle möglichen Güter geschlossene Häfen und Fabriken gibt. In der Folge haben viele Handelsunternehmen ihre Lieferantenbeziehungen verändert.
Aus meiner Sicht treten wir damit in eine neue Phase der Globalisierung ein. Sie wird diversifizierter sein, das heißt, sie wird einseitige Abhängigkeiten vermeiden und nachhaltiger gestaltet sein. Das Ziel der Kreislaufwirtschaft ist richtig, muss aber im globalen Kontext auch umsetzbar sein. Der HDE bietet sich der Politik als Handelsexperte und Partner an, damit beispielsweise das Lieferkettengesetz nicht zu einem bürokratischen Monster wird, sondern das politische Ziel nachhaltiger Lieferketten in der unternehmerischen Praxis tatsächlich Wirklichkeit wird.
Habeck: Ich kann Herrn von Preen nur beipflichten. Robustere Lieferketten und mehr Diversifizierung sind entscheidend. Wir wollen bei Rohstoffen, Energieträgern, Bauteilen und Technologien nicht länger von einem Land abhängig sein. Übrigens ist es eine internationale Tendenz, Wertschöpfung vor Ort haben zu wollen und Lieferketten zu diversifizieren, um widerstandsfähiger zu werden.
Herr Habeck, die Regierung hat die seit 2020 eskalierenden Krisen mit enormen finanziellen Mitteln in Schach gehalten. Milliardenschwere Hilfspakete, Rabatte, Deckel und Bremsen erwecken den Eindruck, dass der Staat alle Risiken auffangen kann. Bedienen Sie damit nicht jene Vollkaskomentalität, die man unserer in weiten Teilen wohlstandsverwöhnten Gesellschaft nachsagt?
Habeck: Hier geht es doch nicht um Vollkaskomentalität. Viele Menschen, viele Unternehmen leiden unter der Energiekrise, sie müssen sparen und ertragen teils erhebliche Einbußen – trotz aller staatlichen Stützungsmaßnahmen. Aber ja, zur Wahrheit gehört auch, dass der Staat nicht alle Schäden abfangen kann. Und genau deshalb haben wir Geld nicht allein für Krisenhilfe ausgegeben, sondern zudem in neue Infrastrukturen investiert und Regulierung so verändert, dass wir unsere Vorsorge erhöhen, resilienter werden.
Wir haben eine robuste Gegenwehr aufgebaut mit vollen Gasspeichern, dem Aufbau neuer Flüssiggasterminals als Alternative zu russischen Pipelines. Und viele Menschen in der Industrie, im Handel, in den Unternehmen, aber auch privat zu Hause haben mitgeholfen, Energie zu sparen. Unseren Umgang mit Energie werden wir auch in Zukunft wesentlich stärker an Effizienz ausrichten müssen. Deswegen arbeiten wir auch an einem Energieeffizienzgesetz.
Herr von Preen, Sie wollen die ökologisch-soziale Wende des Handels aktiv vorantreiben. Konsumverzicht liegt naturgemäß nicht im Eigeninteresse der Branche. Welche Anpassungsleistungen muss die Branche angesichts der drohenden Klimakatastrophe vollbringen?
von Preen: Die Branche vollbringt schon heute große Anpassungsleistungen. Wir sehen das seit Jahren beispielsweise in neu errichteten Green Stores oder vielen Kooperationen mit NGOs aus dem Umweltbereich zur Anpassung der Produktpalette. Aber natürlich kann und muss noch mehr passieren: Der HDE selbst hat erst vor wenigen Wochen ein neues vom Bundeswirtschaftsministerium gefördertes Projekt zur Beratung von insbesondere mittelständischen Handelsunternehmen gestartet. HDE-Adapt wird mit Workshops und Informationsmaterialien die bereits seit vielen Jahren erfolgreichen Bemühungen der HDE-Klimaschutzoffensive unterstützen und ausbauen.
Es ist ein tolles Zeichen, dass das Bundeswirtschafts- und auch das Umweltministerium sich gemeinsam mit dem HDE engagieren, um die Branche weiter voranzubringen. Es geht darum, künftig noch mehr grüne Flächen in die Innenstädte und die Handelsimmobilien zu bringen. Aber auch kühlende Wasserflächen gewinnen an Bedeutung. Der Einzelhandel ist in den Innenstädten ein wichtiger Akteur, um entsprechende gemeinsame Initiativen voranzubringen.
Herr Habeck, wo sehen Sie als Wirtschaftsminister Transformationsbedarf in der Handelsbranche?
Habeck: Der Einzelhandel steht vor großen Herausforderungen. Herr von Preen hat das neue Beratungsangebot HDE-Adapt angesprochen. Die Erfahrungen, die wir gewinnen, sind wichtig für die mögliche Ausgestaltung weiterer Angebote. Wir haben sehr bewusst im vergangenen Jahr den Aktionsplan „Mittelstand, Klimaschutz und Transformation“ vorgelegt, um die prioritären Handlungsfelder zu benennen. Und das sind letztlich genau die Themen, die für den Einzelhandel wichtig sind: Nachhaltigkeit, Digitalisierung und innovative Geschäftsmodelle. Es ist gut, dass wir hier im engen Austausch mit dem Einzelhandel stehen und gemeinsam mit kreativen Köpfen aus der Handelsszene neue Konzepte praxisnah erarbeiten.
Natürlich geht es dabei auch um die Vitalität der Innenstädte insgesamt. Wir sind uns dieses Problems bewusst und haben deshalb das Projekt „Stadtlabore für Deutschland – Leerstand und Ansiedlung“ ins Leben gerufen, woran 14 Modellstädte teilgenommen haben. Dabei wurde eine Software entwickelt, die leer stehende Gebäude mit Gewerbeinteressenten digital matcht. Das kostenlose Angebot ist seit dem 8. Februar freigeschaltet und über die Plattform opencode.de erreichbar. Außerdem erarbeitet mein Ministerium gerade die „Strategie Zukunft Einzelhandel“. Dabei geht es um Nachhaltigkeit, Digitalisierung und innovative Geschäftsmodelle für den Einzelhandel und die Frage, welche Rahmenbedingungen es braucht, um Händlerinnen und Händler bei einer zukunftsfesten Transformation zu unterstützen.
Herr von Preen, Ihrem ordnungspolitischen Ansatz zufolge sollten Unternehmen den notwendigen Strukturwandel aus eigener Kraft stemmen und nicht mit öffentlichem Geld zugeschüttet werden. Trotzdem fordert der HDE allent halben Strukturhilfen. Wie passt das zusammen?
von Preen: Da müssen wir unterscheiden: Den Strukturwandel, den beispielsweise die Digitalisierung ausgelöst hat, den muss jedes Unternehmen für sich im Wettbewerb bestehen. Die aktuellen Krisen aber bringen wirtschaftlich gesunde Unternehmen unverschuldet in Not. Da sind wir alle als Gesellschaft und damit der Staat gefordert, das Gröbste abzufedern. Denn was geschähe, wenn die Politik hier einfach zusähe? Dann wäre in kürzester Zeit eine ganze Branche in ihrer Existenz gefährdet – mit katastrophalen Auswirkungen nicht nur für die Menschen, die bei uns arbeiten, sondern mehr noch für unsere Kunden und die Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Waren. Ganz zu schweigen von der Bedeutung, die der Handel für die gesamte Gesellschaft besitzt – als Ort der Begegnung, des Austausches und des sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Dialogs.
Herr Habeck, Sie gelten als Anhänger der Thesen von Mariana Mazzucato. Die bekannte italienischamerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin ist überzeugt, dass der Markt mit den Herausforderungen unserer Zeit – insbesondere mit dem Klimawandel – überfordert ist. Deshalb tritt sie für einen „unternehmerischen Staat“ ein. Entspricht das Ihrem Amtsverständnis?
Habeck: Wir alle stehen vor der Herausforderung, dass sich verschiedene Krisen überlagern und damit auch das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft permanent Anpassungen unterworfen ist. Natürlich brauchen wir einen funktionierenden Markt, der Innovationen und neue Produkte hervorbringt.
Dennoch benötigen wir auch einen Rahmen, damit es eben fairer Wettbewerb ist. Die Beschaffung von Rohstoffen ist klassischerweise eine Aufgabe für die Unternehmen. Die sagen jetzt selbst, dass sie vom Staat einen besseren Rahmen dafür brauchen, ebenso wird nach Unterstützung für resiliente Lieferketten gefragt. Und wie schon gesagt, insbesondere die Transformation zur Klimaneutralität kommt nicht von allein. Hier ist eine transformative Angebotspolitik des Staates geradezu notwendig. Während der Coronapandemie haben wir diskutiert, wie wir in Krisenzeiten die Versorgung mit medizinischen Gütern sichern und einseitige Abhängigkeiten verbessern – und da liegt immer noch eine große Arbeit vor uns. Aktuell definieren wir genauer, was kritische Infrastruktur ist und wie sie geschützt sein muss.
Haben Sie angesichts der Masse von schwierigen Aufgaben, die Sie als Bundeswirtschaftsminister im vergangenen Jahr zu bewältigen hatten, manchmal gedacht: Da hätte ich auch gleich Kanzler werden können?
Habeck: Ich bin sehr eins mit dem Job, den ich habe, und versuche, ihn so gut zu machen, wie ich kann.
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