Herr Sanktjohanser, „Vision. Innovation. Wohlstand. Der Handel schafft Werte“ lautet in diesem Jahr das Motto des Deutschen Handelskongresses. Lassen Sie uns die Begriffe mit Leben füllen und mit den Innovationen beginnen: Welche werden die Entwicklung der Branche in den kommenden Jahren wesentlich prägen?
Obwohl wir primär Anwender sind, ist Technologie ein maßgeblicher Erfolgsfaktor für den Handel. Treiber war ursprünglich der Onlinehandel, doch mittlerweile erwarten die Kunden auf allen Kanälen jene Services, die sie aus dem E-Commerce gewohnt sind. Convenience ist vielen Kunden sehr wichtig, manchmal noch wichtiger als die Sicherheit der Daten. Dies trifft vor allem auf Teile der jüngeren Kundengenerationen zu, für die mittlerweile Mobile Shopping und Mobile Payment alltäglich geworden sind. Zudem lassen sich mithilfe von Algorithmen Kundenbedürfnisse immer genauer vorhersagen. Deshalb wird es dem Handel künftig noch besser gelingen, das richtige Produkt zum angemessenen Preis am richtigen Ort vorzuhalten. In den kommenden Jahren werden zudem immer mehr Lösungen Verbreitung finden, die auf Künstlicher Intelligenz basieren. Das betrifft sämtliche Abläufe von der Disposition und Logistik über Personalplanung und Marketing bis hin zu Onlinebestellungen per Voice-Device und Robotern als Kundenberater.
Dann arbeiten in Geschäften künftig keine Verkäufer mehr?
Doch, natürlich brauchen wir weiterhin Verkäufer! Sie werden jedoch durch die modernen Technologien so entlastet, dass sie sich künftig verstärkt dem Kundenservice und dem Einkaufserlebnis widmen können. Letztlich bleibt der Handel ein People’s Business: Denn sobald es um mehr als reine Versorgungskäufe geht, wünscht sich der Kunde Beratung, Inspiration und Unterhaltung. Er will sich wohlfühlen und sucht im Austausch mit anderen Menschen emotionale Erlebnisse. Dafür gibt es keinen gleichwertigen technischen Ersatz.
Themen wie Voice Commerce, Datenschutz und Künstliche Intelligenz entfachen zunehmend gesellschaftliche Debatten über ethische Fragen. Welche gesellschaftlichen Werte gilt es aus Ihrer Sicht zu bewahren, die über der ökonomischen Maxime des Handels stehen, möglichst viel Wertschöpfung zu erzielen?
In Hinblick auf die modernen Digitaltechnologien sollten wir dem Reflex widerstehen, alles und zu schnell zu regulieren. Europäische Datenschutzmaßnahmen wie die Datenschutzgrundverordnung oder die ePrivacy-Richtlinie schießen aus meiner Sicht weit über das Ziel hinaus und benachteiligen letztlich europäische Anbieter gegenüber globalen Mitbewerbern. Grundsätzlich brauchen Gesellschaften ohne Frage einen funktionierenden Handel, um die Versorgung sicherzustellen und den gesellschaftlichen Wohlstand zu wahren. Aber wir dürfen die ökonomischen Prinzipien des Mengenwachstums und der Gewinnmaximierung nicht über alles andere stellen. Meine Leitlinie lautet: Die Wirtschaft hat den Interessen der Menschen zu dienen – und nicht umgekehrt.
Wie gut gelingt das Ihrem Eindruck nach bislang?
Wir müssen uns künftig noch stärker an ethisch-moralischen Grundsätzen orientieren und die sozialen und ökologischen Folgen unseres Handelns in jede Entscheidung einbeziehen. Doch wie tief in die Lieferkette hinein reicht die eigene Verantwortung? Unsere Aufgabe ist es, auf dem Verhandlungsweg soziale und ökologische Standards durchzusetzen. Behördliche Kontrollen wie Brandschutz oder allgemeine gesetzliche Auflagen sind Angelegenheiten der Staaten. Im Verbund mit dem Gesetzgeber und internationalen Organisationen drängen wir seit Langem darauf, unsere westlichen Standards durchzusetzen. Das geht leider nicht von heute auf morgen und gelingt nicht in nationalen Alleingängen. Doch mit Initiativen wie dem Textilbündnis haben wir den Boden für europäische Lösungen bereitet.
Wie beurteilen Sie als Vertreter des Handels die von zahlreichen Klimaschutzexperten geäußerten Aufforderungen zum Konsumverzicht?
Wir stehen hier vor einem kaum aufzulösenden Zielkonflikt. Einerseits wissen wir um die Endlichkeit unserer Ressourcen und spüren mittlerweile die Folgen ihres jahrzehntelangen exorbitanten Verbrauchs in den westlichen Industrieländern. Andererseits droht vor dem Hintergrund der schwelenden Handelskriege die Konjunktur einzubrechen. Umso wichtiger wird die Binnennachfrage – also der Konsum – als Faktor des gesellschaftlichen Wohlstands. Vor diesem Hintergrund ist es sozial wie ökonomisch gefährlich, weitreichenden Verzicht zu propagieren. Besonders die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft, die sich keine hochpreisigen Produkte leisten können, überfordert ein solches Ansinnen. Dies gilt insbesondere für den Lebensmittel- und Modehandel. Vor diesem Hintergrund wird es immer wichtiger, den gesamten Warenzyklus durchgängig nachhaltig zu gestalten: von der Rohstoffgewinnung über Produktion und Distribution bis hin zu Konsum und Recycling. Ich bin guten Mutes, dass uns digitale Technologien helfen werden, auf diesem Feld zügig Fortschritte zu erzielen.
Wie bewerten Sie angesichts des gerade beschriebenen Ringens um mehr Nachhaltigkeit die von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen zum Klimaschutz?
Auch wenn zurzeit alle darüber schimpfen und die beschlossenen Maßnahmen als unzureichend brandmarken, bin ich mit meiner Bewertung zurückhaltender. Es musste ein Kompromiss gefunden werden, der vielerlei Interessen berücksichtigt und Bevölkerungsschichten mit geringeren Einkommen nicht überfordert. Das ist im Großen und Ganzen gelungen. Zumindest wird nun mit dem CO2-Zertifikatehandel ein regulatorisches Instrumentarium installiert, das Lenkungswirkung haben wird.
Bei einem Preis von zehn Euro pro Tonne CO2?
Wie gesagt, es ist ein Einstieg. Und das Instrument basiert auf marktwirtschaftlichen Prinzipien, weshalb ich es für Erfolg versprechend halte. Meiner Überzeugung nach sollte es das bisherige System der Finanzierung der Energiewende über Steuern und Umlagen vollständig ersetzen. Das würde dem Klimaschutz dienen und zudem sowohl die Bürger als auch solche Unternehmen entlasten, die bislang massiv zur Kasse gebeten wurden. Insbesondere der Handel ist in dieser Hinsicht hoch belastet, da er von Ausnahmeregelungen nicht profitiert.
Wenn Sie die aktuelle Stimmungslage in Medien und Gesellschaft betrachten – haben Sie den Eindruck, dass die Stimme der Wirtschaft angemessen Gehör findet?
Zu behaupten, wir würden nicht mehr gehört, ist unzutreffend und weit übertrieben. Dafür sind die Wirtschaft und ihre Verbände als Player in unserer Demokratie und für die Zivilgesellschaft viel zu bedeutsam. Mit Blick auf die Großen Koalitionen der jüngsten Legislaturen fällt jedoch auf, wie stark die sozialpolitische Agenda das Regierungshandeln bestimmt hat. Die Folgen für die Wirtschaft sind spürbar. Als Arbeitgeberverband wünschten wir uns weniger Umverteilung und dafür mehr Wettbewerb, statt bürokratischer Gängelung mehr Raum für unternehmerische Initiative. Dass weite Teile der Politik und leider auch der Medien für immer mehr Verbote eintreten, konterkariert unser Ideal einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Dies führt zu einer gewissen Entfremdung zwischen Politik und Wirtschaft. Symptomatisch dafür steht das angekündigte gesetzliche Plastiktütenverbot: Deutschlands Einzelhändler hatten, einer Selbstverpflichtung folgend, Wort gehalten und die entsprechende Vereinbarung mit dem Bundesumweltministerium zur Reduzierung von Einwegtragetaschen übererfüllt. Nun ein Gesetz aufzulegen, ist ein klarer Vertrags- und Vertrauensbruch.
Muss ein Verband wie der HDE heute anders agieren als früher, um nicht an Einfluss zu verlieren?
Der Handel agiert global, deshalb können wir nicht in alten Grenzen denken. Ob es um den fairen Wettbewerb im Zeitalter der Plattformökonomie oder um den Klimaschutz geht: Nationale Lösungen helfen in vielen Fällen nicht weiter. Wir sind sensibel für die Veränderungen in der Welt und sind als Spitzenverband schlagkräftig aufgestellt, um als gesellschaftlicher Akteur die Interessen unserer Mitglieder in Berlin und in der EU wirkungsvoll zu vertreten. Aktionistisch kurzfristigen Trends hinterherzulaufen, ist dabei unsere Sache nicht. Wir werden weiterhin eine konsequent an den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft ausgerichtete Sachpolitik betreiben und auch in Zukunft ein verlässlicher Sozialpartner sein. Perspektivisch wollen wir uns noch weiter öffnen und neben dem klassischen Stationärhandel verstärkt Onlinehändler und Start-ups für die Verbandsarbeit gewinnen.
Von gemeinsamem Interesse ist es beispielsweise, europäische Sozial-, Umwelt- und Produktstandards durchzusetzen, um im Wettbewerb mit den Anbietern aus den USA und China nicht benachteiligt zu sein. Wie kann dies in einer Welt des globalisierten Handels gelingen?
Dies kann nur mit einer starken EU gelingen, die verbindliche Vorgaben macht und deren Überwachung konsequent durchsetzt. Derzeit strömen vor allem aus Asien Unmengen von Waren in die Gemeinschaft, die weder den genannten Standards entsprechen noch unseren Sicherheitsansprüchen genügen. Das benachteiligt nicht nur europäische Unternehmen, die sich an die Vorgaben halten und dadurch beim Preis nicht wettbewerbsfähig sind, sondern stellt zudem eine konkrete Gefahr für die Verbraucher dar. Um einen fairen Wettbewerb sicherzustellen, muss deshalb der Zoll ertüchtigt werden, bei allen Lieferungen in die EU sämtliche Vorgaben zu kontrollieren und durchzusetzen. Wer auf dem attraktiven EU-Binnenmarkt Waren verkaufen möchte und die europäische Infrastruktur in Anspruch nimmt, muss sich an unsere Regeln halten. Dies gilt ebenso für das Plagiatsverbot wie für die korrekte Abführung der Umsatz- und Transaktionssteuer.
Gehen wir ein wenig weg vom Handel und weiten den Blick: Angesichts der abflauenden Konjunktur und des derzeit billigen Geldes fordern zahlreiche Wirtschaftsexperten aus Politik und Wissenschaft, das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts auf Eis zu legen und deutlich mehr zu investieren. Was ist Ihre Meinung als Kaufmann und studierter Volkswirt dazu?
Als Unternehmer würde ich sagen: Wer zu wenig Schulden hat, dem fehlt es an Fantasie, Geld für lohnende Investitionen auszugeben. Die schwarze Null ist daher für mich kein heiliger Gral. Um kreditfähig zu bleiben, darf man es aber auch nicht übertreiben. Insofern gilt es angesichts endlicher Mittel, Prioritäten zu setzen. An dieser Stelle gab es in den vergangenen Jahren deutliche Fehlentwicklungen. Ich halte es für absolut nicht nachhaltig, jeden verfügbaren Euro in vermeintliche Gerechtigkeitslücken, also unausgewogene soziale Projekte zu investieren. Auf diese Weise betreibt man Klientelpolitik, verspielt jedoch die Zukunft nachfolgender Generationen. Geld aufzunehmen, um es in Bildung, Klimaschutz und analoge wie digitale Infrastruktur zu investieren, halte ich hingegen für absolut sinnvoll, denn das ist gleichermaßen zukunftsträchtig wie nachhaltig. Diese Investitionen müssen jedoch streng auf die hoheitlichen Aufgaben des Staates begrenzt sein. Subventionsprogramme aufzulegen, um den Bau von Immobilien zu fördern oder für den Erhalt unrentabler Wirtschaftsstrukturen, ist nicht marktwirtschaftlich und meiner Überzeugung nach reine Geldverschwendung.
Vor dem Hintergrund der diskutierten Umwälzungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik: Für welche Vision steht der Handelsverband Deutschland? Wie soll aus Ihrer Sicht die Handelswelt von morgen beschaffen sein?
Die Händler müssen im Anbieterwettbewerb Digitalisierung als Chance begreifen und die Technologieführerschaft anstreben. Der HDE unterstützt dabei gleichermaßen die mittelständischen und großen wie auch die stationären und E-Commerce-Unternehmen. Für alle wollen wir immer bessere politische Rahmen- und gleiche Wettbewerbsbedingungen schaffen. Der Handel steht mit seiner Verantwortung in der Lieferkette in besonderer Weise für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen und das Zusammenleben. Er wird für diese Verantwortung in Zukunft noch deutlicher einstehen und dies auch für die Kunden sichtbar machen.
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