Kolumne

Nur die neue führt in die alte Welt

Eine der naheliegendsten Schlussfolgerungen zu den Auswirkungen der Pandemie auf den Einzelhandel war: Das Verbraucherverhalten hat sich für immer verändert. "Aber hat es das wirklich?", fragt sich unser Kolumnist Ian McGarrigle, Chairmann World Retail Congress.

Von Ian McGarrigle 13.09.2022

© Getty Images/Maica

Neue Marketingwelt: Kleinunternehmen erzielen via Social­-Media eine große Reichweite.

Corona und all seine Varianten sind zwar immer noch im Umlauf, doch das Verbraucherverhalten kehrt mit bemerkenswerter Stärke ebenso zu „alten“ Mustern zurück wie die Käufer in großer Zahl in die Geschäfte. War diese Schlussfolgerung also voreilig?

Während der Lockdowns gab es keine andere Möglichkeit, als Bedürfnisse und Wünsche über das Internet zu decken: Die Einzelhändler sahen, wie ihr E-Commerce ein Niveau erreichte, das sie seit einigen Jahren nicht mehr erwartet hatten. Jetzt aber genießen die Verbraucher die Möglichkeit, ihr Haus wieder verlassen zu können, um Kontakte zu knüpfen und ­einzukaufen. Überall auf der Welt hat sich das Online­wachstum verlangsamt – und viele reine ­Onlinehändler stehen plötzlich ohne Offlinepräsenz unter Druck. Insofern überrascht es nicht, dass Amazon und Alibaba enorme Summen in den Aufbau einer stationären Einzelhandelspräsenz investieren.

Es wäre jedoch falsch, daraus zu schließen, dass sich das Verbraucherverhalten nicht doch ändert. Bei dem Versuch, die neue Customer-Journey zu verstehen, dürfen Einzelhändler und Marken nicht unterschätzen, dass ein Einkaufsbummel in den sozialen Medien beginnt oder von diesen inspiriert wird. Ebenso wenig wie das Ausmaß, in dem das Handy zur Recherche für einen Kauf on- oder offline genutzt wird. Es ist ein Medium, das die Einzelhändler in vollem Umfang nutzen müssen, wenn sie mit Verbrauchern sprechen oder sie beeinflussen wollen. Sonst überlassen sie sie der Konkurrenz oder anderen Aktivitäten, die Ausgaben anziehen.

Kürzlich sprach ich mit einem Social­-Media-Experten. Er berichtete mir, dass er an Handelsspots in London oft die Warteschlangen vor bestimmten Geschäften beobachtet und versucht, zu erraten, welcher Social-Media-Kanal die Menschen dorthin gebracht hat: TikTok, Instagram oder YouTube? Sobald er mit einigen der Personen in den Warteschlangen spricht, bestätigt er seine Vermutung anhand einer Reihe von Merkmalen wie dem Alter oder dem Modestil. Die Menschen nutzen soziale Medien zunehmend, um mit Gemeinschaften und Markenanhängern zu interagieren. Sie wollen auch Teil einer Gruppe sein.

Diese Verlagerung der Verbrauchermacht über die sozialen Medien wurde mir kürzlich vor Augen geführt. In der Nähe meines Wohnortes in London bemerkte ich nachmittags einen mobilen Pizzawagen. Er hatte gerade geparkt und schickte sich an, mit dem Verkauf zu beginnen. Ich hatte ihn noch nie zuvor in der Gegend gesehen. Die Speisekarte sah großartig aus, und ich beschloss, am frühen Abend wiederzukommen. Als ich weniger als 90 Minuten später zurückkam, musste ich enttäuscht feststellen, dass die Pizzen aufgrund von Vorbestellungen, die über soziale Medien eingegangen waren, komplett ausverkauft waren. Von jemandem, der eindeutig besser informiert war als ich, erfuhr ich, dass dieser Pizzawagen sich einen guten Ruf erworben hatte, indem er vor örtlichen Bars und Kneipen geparkt hatte. Über seine Social-Media-Accounts hatte er eine große Fangemeinde aufgebaut, die regelrecht darauf wartete, herauszufinden, wo er abends stand.

Das war ein Weckruf für mich. Denn er zeigte mir nicht nur, wie soziale Medien die Customer-Journey im Handel gestalten, sondern auch, wie sie an der Basis und von Tausenden von Kleinstunternehmen, die noch nie traditionelle Werbung und Marketing betreiben mussten, wirkungsvoll eingesetzt werden. Sie haben verstanden, dass man in der heutigen Handelswelt näher an den Kunden herankommen und mit ihm so kommunizieren muss, wie er es sich wünscht. Und genau das ist eine Sache, der sich alle Einzelhändler, unabhängig von ihrer Branche oder ihrem Produkt, annehmen müssen. 

Schlagworte: Verbraucherverhalten, Coronavirus, Ian McGarrigle, Kolumne

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