Frau Friedrich, Frau Gerstein, Herr Schnappauf, wo, wie oder was haben Sie zuletzt nachhaltig eingekauft oder konsumiert?
Friedrich: Ich habe vor einigen Tagen mit Freundinnen eine Kleidertauschparty gemacht.
Gerstein: Ich war am Sonntag Pilze sammeln und habe eine riesige Ausbeute Steinpilze mit nach Hause gebracht.
Schnappauf: Bei mir ist es Wasser. Ich habe schon vor Jahren damit begonnen, nur noch Leitungswasser zu trinken und keine Flaschen mehr zu schleppen.
Vielen Dank für die Einblicke, die ja schon drei Nachhaltigkeitstrends im Handel aufzeigen: Secondhand, Regionalität und bewusster Konsumverzicht. Was noch bedeutet nachhaltiger Konsum für Sie?
Gerstein: Das hat für den Handel unheimlich viele Facetten. Während der Pandemie haben wir zum Beispiel erlebt, dass viele Menschen mehr zu Hause gekocht haben und somit angefangen haben, nachhaltiger einzukaufen. Die Nachfrage nach Bioprodukten ist enorm gestiegen. Tierwohl ist ein wichtiges Thema und tatsächlich die Regionalität von Produkten. Das ist ein Trend, dem viele Einzelhändler und Supermärkte gefolgt sind und durch den neue Beziehungen in der Lieferkette entstanden sind. Viele Händler nehmen inzwischen Produkte direkt von ihren örtlichen Lieferanten ab.
Friedrich: Die aktuelle Krise macht uns auf dramatische Weise deutlich, wie wichtig es ist, knappe Ressourcen nicht zu verschwenden. Futtermittelpreise steigen, genauso die Energiepreise, Landwirte kämpfen um ihre wirtschaftliche Existenz. Dennoch können es sich Unternehmen jetzt nicht leisten, ihre Nachhaltigkeitsbemühungen runterzufahren, schon allein aufgrund der gesetzlichen Anforderungen. Im Gegenteil: In dieser Situation zeigt sich, wie wichtig gute Lieferantenbeziehungen sind – gerade der Schutz der Menschenreichte und der Umwelt zunehmend in den Fokus rückt.
Herr Schnappauf, auf der Website des Rats für Nachhaltige Entwicklung ist zu lesen: „Nachhaltiger Konsum bedeutet, bewusster und gelegentlich auch weniger zu kaufen.“ Muss diese Position dem Handel Sorgen machen?
Schnappauf: Nicht, wenn wir uns vor Augen führen, was „bewusster kaufen“ bedeutet – wenn Verbraucher sich zum Beispiel für teurere Qualitätsprodukte entscheiden, die dann aber auch deutlich länger halten oder unter nachhaltigeren Bedingungen hergestellt wurden.
Allerdings ist der Preis momentan ein sensibles Thema. Wegen der Inflation schauen Verbraucher nun wieder mehr aufs Geld – und weniger auf Klimaschutz, Fairtrade und Tierwohl. Fällt das Erreichte der Krise zum Opfer?
Schnappauf: Natürlich können wir dieses Gespräch nicht führen, ohne dass wir die aktuellen Ereignisse berücksichtigen. Wir haben einen Krieg in Europa, in dessen Folge nun die Energiepreise und die Lebensmittelpreise steigen. Das sind Rahmenbedingungen, bei denen Nachhaltigkeit schnell ins Hintertreffen geraten kann. Aber wir müssen uns bewusst machen und dafür werben, dass nachhaltiger Konsum – egal, ob es um Lebensmittel, Textilien oder Elektronik geht – langfristig das Richtige ist. Denn die anderen großen Herausforderungen, wie der Klimawandel, der Verlust der Biodiversität, der demografische Wandel und die Digitalisierung, bestehen ja nach wie vor. Ich glaube, dass die aktuelle Krise uns zu einem nachhaltigeren Verhalten pushen kann, dass wir die Krisen als Generalschlüssel für Transformation nutzen können.
Gerstein: Trotzdem ist die Inflation ein Thema. Unser HDE-Konsumbarometer war im September auf einem historischen Tiefpunkt. Die Verbraucher halten sich zurück. Das ist nicht einfach für den Handel, der nach zwei Jahren Coronapandemie eigentlich dachte, schlimmer könne es nicht mehr kommen.
Bei Verbrauchern klafft tatsächlich eine Lücke. Viele verhalten sich beim Einkauf doch anders, als sie in Umfragen antworten. Konsumparadoxon oder „Attitude-Behaviour-Gap“ nennen das Marktforscher. Wer kann dieses Problem lösen?
Friedrich: Der Handel hat in den vergangenen Jahren umfangreiche Produktinformationen bereitgestellt und neue Wege in der Kundenkommunikation beschritten. Da können sich andere Branchen eine Menge abschauen. Und trotzdem sehen wir: Wissen allein verändert noch kein Verhalten. Forscher sagen, dass man die Alltagsrealität und die unterschiedlichen sozio-ökonomischen Voraussetzungen der Konsumenten berücksichtigen muss, wenn man nachhaltige Kaufentscheidungen herbeiführen will. Es macht einen Unterschied, ob sie auf dem Land oder in der Stadt wohnen, ob sie in der Ausbildung oder in Rente sind. Das ist eine komplexe Aufgabe – die nur zu bewerkstelligen ist, wenn Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft an einem Strang ziehen.
Baucht es auch noch mehr Regulierung?
Gerstein: Ja und nein. Dadurch, dass der Handel sich an der Schnittstelle zum Verbraucher befindet, ist das Reputationsrisiko in unserer Branche besonders groß. Dessen sind sich die Unternehmer bewusst und deshalb setzen sie auch ohne Regulierung schon sehr viel in Gang. Aber natürlich geht es auch nicht ohne. Es gibt soziologische Studien, aus denen hervorgeht, dass gerade Gesellschaften in Transformationsphasen Regulierung benötigen. Nur die Menge dessen, was auf den Handel und Unternehmen im Allgemeinen zukommt, ist zu groß. Wir haben die EU-Taxonomie, die CSR-Richtlinie, das Lieferkettengesetz, die Gebäudeeffizienz-Richtlinie und, und, und. Das ist ein Regulierungs-Tsunami, der wieder eingehegt werden muss.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Gerstein: Es gibt eine Vorgabe in der Gebäudeeffizienz-Richtlinie, nach der Händler auf ihren Parkplätzen eine gewisse Anzahl an E-Auto-Ladesäulen installieren müssen – und zwar egal, ob sie in der Stadt oder auf dem Land sind. Das ist so ein Beispiel, bei dem ich mir einfach mehr Flexibilität und Augenmaß wünsche. Hier müsste die Regulierung unterscheiden: Geht es um einen Standort in einem urbanen Umfeld oder im ländlichen Raum? Da gibt es völlig unterschiedliche Anforderungen.
Frau Friedrich, wie erleben Sie die Situation? Wie gehen die Unternehmen mit den vielen neuen Vorgaben um?
Friedrich: Unternehmen, die ihre Lieferketten schon lange genau beobachten oder in Energieeffizienz investiert haben, sind jetzt natürlich im Vorteil. Aber in der Breite gibt die Regulierung der Transformation schon einen spürbaren Schub nach vorne. Ich arbeite seit 20 Jahren in der Nachhaltigkeitsberatung und es ist unglaublich spannend zu sehen, wie das Thema jetzt in alle Unternehmensprozesse integriert wird, weil die aktuellen Regulierungen und Marktentwicklungen alle tangieren. Unternehmen schaffen nun die nötigen Strukturen – vor allem mit einem Blick auf das Risikomanagement –, um CO2-Emissionen in der Lieferkette zu ermitteln, im Einkauf dezidierter auf Umweltauswirkungen, Arbeitsbedingungen und Schutz der Menschenrechte zu achten, oder um in der Logistik den Ressourcenverbrauch zu senken. Im Übrigen bin ich davon überzeugt, dass darin auch finanzielle Einsparpotenziale und Wettbewerbsvorteile liegen, die noch nicht ansatzweise gehoben werden. Aber zunächst sind es natürlich komplexe Herausforderungen, die man strukturiert und priorisiert angehen musss.
Und das können auch kleinere und mittelständische Händler stemmen?
Friedrich: Ja, das können sie – auch weil die Politik anerkennt, dass der Weg zur Nachhaltigkeit kein Sprint sondern ein Marathon ist. Es wird kein Unternehmen sofort abgestraft, wenn es nicht unmittelbar alle Risiken identifiziert und alle Themen durchgängig im Griff hat. Außerdem ist das Thema auch für den Mittelstand längst eine Finanzierungs- und Kostenfrage, seitdem auch Banken nachfragen, wie es um ESG-Kriterien bestellt ist.
Gleichzeitig müssen sich Unternehmen Nachhaltigkeit leisten können. Die Kosten für Energie oder Transport explodieren, während die Umsätze sinken. Geht hier in den kommenden Monaten nicht auch der Krisenmodus vor?
Schnappauf: Ja, akutes Krisenmanagement ist wichtig. Wir müssen alles dafür tun, dass die Menschen im Winter ihre Wohnungen heizen können und ihre Kaufkraft erhalten, dass Unternehmen weiter produzieren können, dass die Lieferketten funktionieren. Über allem steht momentan die Frage der Energieversorgung. Und wenn wir dafür jetzt kurzfristig mehr Kohle und Öl brauchen, dann müssen wir unsere Anstrengungen im Frühjahr verdoppeln oder verdreifachen. Denn so schmerzhaft die Einschnitte momentan auch sind: Wenn Unternehmen, Politik und Verbraucher die Krise so managen, dass umweltbewussteres Leben und Wirtschaften möglich wird, sehe ich darin auch Chancen. Der Umbau des Energiesystems ist das beste Beispiel: Fossile Energien sind heute schon teurer als die Erneuerbaren. Wenn wir in Deutschland 2030, also in weniger als acht Jahren, 80 Prozent erneuerbare Energien haben wollen, dann wird das ein Kraftakt. Aber wenn wir dieses Ziel erreichen, haben wir eine günstige und weitgehend unabhängige Energieversorgung.
Soll heißen, wenn der Handel jetzt in Sachen Nachhaltigkeit nicht lockerlässt, steht er in wenigen Jahren deutlich besser das?
Schnappauf: Davon bin ich überzeugt – und dabei glaube ich an die positive Kraft von Netzwerken. Der Rat für Nachhaltige Entwicklung hat Ende September das Gemeinschaftswerk Nachhaltigkeit gestartet, eine gemeinsame Initiative mit Bund und Ländern. Herzstück ist eine offene Onlineplattform für alle, die sich für eine nachhaltige Gesellschaft einsetzen. Sie können dort ihre Projekte und Konzepte vorstellen. Denn wir müssen das Rad ja nicht immer neu erfinden. Wer sein Unternehmen klimafreundlicher machen oder Schritte in Richtung Kreislaufwirtschaft gehen möchte, findet dort Best-Practice-Beispiele und ganz konkrete Hilfe.
Gerstein: Die akute gesamtwirtschaftliche Situation ist für viele unserer Mitglieder äußerst bedrohlich, was Prognosen gerade erschwert. Dennoch glaube ich mittelfristig an zukunftsweisende Chancen, die die Händler nutzen werden. Der europäische Handelsverband EuroCommerce hat gemeinsam mit McKinsey eine aktuelle Studie veröffentlicht, in der die Autoren zeigen, wie Nachhaltigkeit im Lebensmittelhandel langfristig das Erlöspotenzial steigert. Dafür müssen Händler anfangs investieren und zum Beispiel Kapitalkosten in Kauf nehmen. Aber nach einer Anlaufphase überwiegen die Vorteile, etwa durch geringere Betriebskosten, neue Geschäftsmodelle und mehr Marktanteile.
Antje Gerstein
verantwortet seit 2020 als Geschäftsführerin den Bereich Nachhaltigkeit beim HDE. Darüber hinaus leitet sie bereits seit 2017 das Brüsseler Büro des Handelsverbands. Zuvor hat die studierte Geografin viele Jahre für die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände gearbeitet, ebenfalls als Leiterin der Repräsentanz in Brüssel und Geschäftsführerin.
Werner Schnappauf
ist seit 2020 Vorsitzender des Rats für Nachhaltige Entwicklung, dem er bereits seit 2016 angehört. Von 1998 bis 2007 war Schnappauf Bayerischer Staatsminister für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz. Von 2007 bis 2011 stand der Jurist als Hauptgeschäftsführer an der Spitze des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI).
Carolin Friedrich
leitet das Berliner Büro von Stakeholder Reporting, einer auf Strategie, Management und Kommunikation von unternehmerischer Nachhaltigkeit spezialisierten Beratungsfirma. Ihr Arbeitsfokus liegt auf den Themenfeldern Dialog und Lieferkette. Zu ihren Kunden gehören unter anderem große Handelsunternehmen und Konsumgüterhersteller.
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