Menschliches Back-up
Viele Handelsunternehmen haben ihre Einkaufsprozesse weitgehend automatisiert. Doch eine Ausnahmesituation wie Corona überforderte die Algorithmen. Das Beispiel Amazon zeigt: Auf Technik allein ist kein Verlass.

Viele Handelsunternehmen haben ihre Einkaufsprozesse weitgehend automatisiert. Doch eine Ausnahmesituation wie Corona überforderte die Algorithmen. Das Beispiel Amazon zeigt: Auf Technik allein ist kein Verlass.
Zu irren ist nicht nur menschlich, sondern offenbar auch algorithmisch. Das musste im Sommer ausgerechnet der größte Versandhändler der Welt feststellen. Amazons Lager stießen an ihre Kapazitätsgrenzen, die hocheffiziente Verkaufsmaschine geriet ins Stottern, berichtete die Süddeutsche Zeitung – nicht ganz ohne Schadenfreude. Das lag nicht etwa daran, dass die Menschen lieber in den Innenstädten einkauften, vielmehr hatte der Algorithmus der Amerikaner zu viel Ware geordert.
Für die Absatzplanung bezieht der Algorithmus zahlreiche Faktoren mit ein, die Saisonalitäten oder kalendarische Ereignisse, Haltbarkeitsdaten oder Lieferbedingungen betreffen. Ein gut laufendes Produkt wird automatisch nachbestellt, sein Bedarf aus vergangenen Verkaufsperioden hochgerechnet. Ziel ist es, immer die genau richtige Menge eines Produkts auf Lager zu haben, um nicht unnötig Kapital zu binden.
Das unvorhersehbare Ereignis einer Pandemie hatte der Algorithmus nicht auf der Rechnung: Amazon fokussierte sich 2020 kurzfristig auf Produkte des täglichen Bedarfs. Gut ein Jahr später, von Hamsterkäufen ist keine Rede mehr, liegen vergleichbare, automatisch ausgelöste Bestellmengen der Schnelldreher wie Blei in den Lagerregalen – während weihnachtssaisonal gefragtere Waren, die Amazon-Händler einlagern lassen möchten, kaum mehr Platz finden.
Viele Handelsunternehmen haben ihren Einkauf mittlerweile weitgehend automatisiert, und das birgt Risiken. „Die Frage ist, ob man das Problem lösen kann, indem künstliche Intelligenz die Algorithmen ergänzt“, sagt Stefan Witwicki, Mitglied der Geschäftsleitung bei dem Aachener Software-Unternehmen Inform, das zahlreiche Marken und Handelsunternehmen zu seinen Kunden zählt. „KI gilt vielen als eine Art Allheilmittel. Doch eine grundsätzliche Abwägung ist vonnöten, ob der verwendete Algorithmus gut ist, ob er durch KI besser wird und ob das Gespann noch mal optimiert wird, wenn Menschen eingreifen können.“
Während Algorithmen Handlungsvorschriften zur Lösung eines realen Problems in einem mathematischen Modell sind, die auf der Marktkenntnis von Experten beruhen – also ein wissensgetriebenes Verfahren darstellen –, geht KI einen Schritt weiter: KI oder Machine Learning bezeichnet ein datengetriebenes Verfahren, bei dem die eingesetzten Algorithmen, in Ergänzung zum Expertenwissen, Muster und Korrelationen in großen Datenmengen identifizieren, um Prognosen zu erstellen.
Für Unternehmen ist es etwa interessant, zu analysieren, wie exakt Lieferanten ihre Liefertermine einhalten. Je genauer das Wissen darüber, wann die Ware im Lager ankommt, desto weniger Sicherheitsbestand muss als Puffer vorgehalten werden. Könnte KI den Algorithmus dabei unterstützen? „Eine algorithmenbasierte Software würde zum Beispiel angeben: ‚Bei einer Liefersicherheit von 95 Prozent ist Sicherheitsbestand X optimal.‘ Weil KI aber immer weiter dazulernt, könnte dieses Fenster künftig kleiner gehalten werden“, erklärt Witwicki.
Das Unternehmen weiß genauer, wann mit Lieferungen zu rechnen ist, die Sicherheit steigt, der kostenintensive Warenpuffer kann schrumpfen. „Es ist also in diesem Beispielfall der Lieferterminvorhersage sinnvoll, eine KI einzusetzen“, so Witwicki. „Aber wir haben uns bei unseren Lösungen dafür entschieden, dass es für den Menschen immer die Möglichkeit gibt, die Vorschläge der KI zu überstimmen.“ Das menschliche Back-up – in diesem Fall der erfahrene Einkäufer – mag einige Lieferanten besser einschätzen können als das KI-Modul.
„Meine Vermutung ist, dass dieser Ansatz des menschlichen Eingriffs in die Entscheidungen der KI im Fall von Amazon aufgrund der schieren Skalierung des Unternehmens so noch nicht stattgefunden hat“, sagt Witwicki. Der Branchenprofi sollte die letzte Entscheidungsinstanz bilden, um in ungewöhnlichen Zeiten eingreifen zu können.
Dafür sei es aber auch unabdingbar, Organisationstrukturen zu schaffen, die den Austausch jener Mitarbeiter befördern, die Bestands- oder Produktionsplanungsprozesse überwachen. „Software allein ist nicht die Lösung. Blindes Vertrauen in die KI ist geradezu fahrlässig, zumal wir bei den KI-Anwendungen erst am Anfang stehen.“
Wo hört Operations Research durch einen Algorithmus auf und wo fängt künstliche Intelligenz (KI) an? Die Begriffe sind unscharf und verschwimmen. Stefan Witwicki nimmt eine Definition vor und beschreibt Anwendungsszenarien.
Schlagworte: Künstliche Intelligenz, Technik, Lieferkette
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