Vor wenigen Monaten hielt Paul Polman, ehemaliger CEO von Unilever, auf dem World Retail Congress in Rom eine Grundsatzrede. Er sprach leidenschaftlich über die Bedeutung von Umwelt-, Sozial- und Governance-Strategien (ESG). Als ehemaliger Vorstand eines der größten Unternehmen der Welt räumte Paul Polman aber ein, dass er mit jedem CEO mitfühle, der sich heute nicht nur mit ESG, sondern auch mit den wachsenden makroökonomischen und geopolitischen Problemen auseinandersetzen müsse. All diese Herausforderungen drängen inzwischen so sehr, dass es für CEOs fast unmöglich erscheint, sie gleichzeitig anzugehen.
Seit Polmans Auftritt im April sind sie noch größer geworden. Während die Welt versucht, sich von der Pandemie zu erholen, müssen sich Einzelhändler nun mit steigenden Energiekosten, einer Inflation auf dem höchsten Stand seit 40 Jahren, Problemen in der Lieferkette, einer Lebenshaltungskostenkrise und einer Krise bei der Personalbeschaffung und -bindung auseinandersetzen. In meinen Gesprächen mit Händlern aus der ganzen Welt wird deutlich, dass sie versuchen, sehr ausgewogene Entscheidungen zu treffen. Aber wie können sie auf die massiven Kostensteigerungen reagieren, während sie gleichzeitig weiterhin hohe Summen in Transformationsstrategien investieren müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben? Und was bedeutet das für ihre Nachhaltigkeitsagenda?
Die Händler beteuern, dass sie nicht nachlassen werden, Klimaziele zu erreichen, die Bedingungen in Lieferketten zu verbessern, die Lebensmittelverschwendung zu bekämpfen und nachhaltige Verpackungen zu etablieren. Doch die Realität sieht – vielleicht zwangsläufig – etwas anders aus. Denn Händler müssen auch ihre Kosten senken. Und es lässt sich nicht leugnen, dass der Weg zur Klimaneutralität oder die Förderung der Kreislaufwirtschaft mit Kosten verbunden sind.
Leider zeigen Extremwetterereignisse, wie wir sie im Hitzesommer in Europa erlebt haben, dass der Kampf gegen den Klimawandel alle anderen Überlegungen überlagern muss. Auf einer Konferenz über die Kreislaufwirtschaft, die kürzlich in London stattfand, sagte Philipp Hildebrand, stellvertretender Vorsitzender von Blackrock, dass das weltweite BIP in den kommenden Jahrzehnten um 25 Prozent sinken werde, wenn sich die Wirtschaft nicht der Nachhaltigkeit verschreibt. Paul Polman rechnete auf dem World Retail Congress ebenso unverblümt vor, dass die Kosten für Unternehmen bei einem „Weiter so“ inzwischen höher seien, als wenn sie etwas tun.
Vielleicht sollten wir die aktuelle Krise also auf eine andere Weise betrachten. Könnte sie nicht auch eine Gelegenheit für Händler bieten, jeden Aspekt ihres Geschäfts radikal zu überdenken? Ist sie nicht der ideale Anstoß, um auf erneuerbare Energien umzusteigen und Lösungen zu finden, die Kosten und gleichzeitig CO2-Emissionen, Verschwendung und übermäßigen Abfall reduzieren? Ist dies nicht der Moment für den Einzelhandel, das zu tun, was er am besten kann – nämlich innovativ zu sein? Ich sage: Ja. Folgen wir dem Appell von Paul Polman, der forderte: „Man muss längerfristig denken und handeln.“
Hier geht es zum Autoren-Profil von Ian McGarrigle.
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