Die drei Kinder von Anna Yona sind unzufrieden. Die Familie war gerade aus Israel nach Deutschland gezogen – und nun ist es draußen zu kalt zum Barfußlaufen. In Haifa rannten die Kinder den ganzen Tag ohne Schuhe durch die Gegend. Nun vermissen sie ihre gewohnte Freiheit. Und egal, welche Schuhe sie im oberbergischen Engelskirchen bei Köln ausprobieren – die Kinder finden sie unbequem.
„Dank des Barfußlaufens waren unsere Kinder schon früh sicher auf den Beinen und zudem auch viel selbstsicherer als andere im gleichen Umfeld, die mit Schuhen aufwuchsen“, erinnert sich Yona. Plötzlich hat die Mutter eine Idee: Warum nicht einen minimalen Schuh schaffen, der seinem Träger das Gefühl von Barfußlaufen und Freiheit vermittelt?
Die Marke Wildling ist geboren, vermarktet auf Instagram mit wunderschönen Fotos von schwerelos springenden Menschen: Stoppelfelder, Sonnenschein und unbeschwerte Kindheitstage. „Offenbar haben wir ein echtes Problem gelöst. Denn ohne ein überzeugendes Produkt, bringt auch das beste Marketing nichts“, sagt die 42-Jährige. Drei Jahre nach dem Start ihres Onlineshops verkaufen Anna und ihr Ehemann Ran Yona pro Jahr 150 000 Paar Schuhe und setzen einen niedrigen zweistelligen Millionenbetrag um – und dies ausschließlich über die eigene Internetseite.
Damit bauten sie – nahezu unbemerkt – eines der erfolgreichsten Direct-to-Consumer-Start-ups in Deutschland auf. Schon in der Entwicklungsphase ihres Minimalschuhs aus nachhaltigen Materialien sammeln die Yonas eine Community in den sozialen Medien um sich, die inzwischen zu einer riesigen Facebook-Gruppe gediehen ist.
Gründungskapital via Kickstarter
Im vergangenen Herbst eröffnet Wildling in der Kölner und der Berliner Innenstadt zudem zwei Showrooms. „Das Internet demokratisiert die Möglichkeit, etwas aus dem Boden zu stampfen“, sagt Yona. „Wer online startet, diversifiziert später offline. Das beeinflusst das Landschaftsbild des Handels nachhaltig.“
Eigentlich wollte Anna Yona Journalistin werden – deshalb studierte sie in Tel Aviv Englisch und Nahostgeschichte. Doch sie verliebt sich in Ran, entscheidet sich, zu bleiben, gründet mit ihrem Mann ein Sportstudio – und eine Familie. Erst als die Kinder ins Schulalter kommen, zieht die Familie der guten Ausbildungsmöglichkeiten wegen nach Deutschland.
Yonas Talent zum Geschichtenerzählen kommt bei der Gründung ihres Schuhunternehmens wie gerufen. Denn ihre ersten Gehversuche mit Wildling dokumentiert sie eins zu eins auf Facebook. Die Onlinegemeinschaft fiebert mit den Yonas mit, wann es endlich die ersten Schuhe zu kaufen gibt. Auf Kickstarter sammeln die Gründer die ersten 100.000 Euro ein. 2016, im ersten Verkaufsjahr, konnte Wildling bereits ganze 7 000 Paar Schuhe verkaufen. Die Produkte, die die Nachfrage für ein halbes Jahr abdecken sollten, waren schon nach wenigen Tagen ausverkauft.
Community bestimmt mit
„Wir sorgten uns nicht, dass unsere Ideen geklaut würden“, erinnert sich Yona. So nahmen die Gründer ihre neuen Facebook-Freunde virtuell mit auf die Suche nach einer geeigneten Fabrik in Portugal. Sie fragten die Community, ob sie einen Fuchs oder ein Kind besser fänden als Logo für Wildling. Und sie hörten auf das, was die Leute zu sagen hatten. „Es hat riesigen Spaß gemacht – fast, als ob wir ein Tagebuch auf Facebook geführt hätten“, sagt Yona.
„Seitdem behalten wir die Offenheit, die Ehrlichkeit und die Authentizität einfach bei.“„Digital-Native-Marken müssen direkte Kundenbeziehungen aufbauen, über die sie Folgetransaktionen generieren, ohne dass Kosten für Werbung auf Google oder Facebook entstehen“, sagt Direct-to-Consumer-Experte Florian Heinemann vom Frühphasen-Investor Project A.
Anna Yona ist die geborene Netzwerkerin. Die Gründerin findet auf Facebook Gruppen arbeitender Mütter und „Mom-Preneurs“, mit denen sie den Austausch sucht. Als Nächstes weitet sie die Zielgruppe auf barfußaffine Gruppen aus, die über die Eltern von Kleinkindern hinausgehen – zum Beispiel Yoga-Fans. Zugleich ist Yona sich bewusst, dass sie ihre Marke nicht nur an die Plattform Facebook binden darf, um eine zu große Abhängigkeit zu vermeiden: „Wir sind inzwischen auf Instagram genauso aktiv. Nur mit TikTok zögern wir – da vermuten wir nicht unsere Zielgruppe.“
TikTok nutzen vor allem Teenager. Fußprobleme sind aber eher ein Thema gerade für ältere Menschen: Viele Menschen über 50 haben Probleme mit ihren Füßen, müssen zum Teil operiert werden. Hinzu kommen Haltungsschäden und Schmerzen in Knien und Rücken durch falsches Schuhwerk. „Unseren Kunden geht es in Barfußschuhen besser. Ihr Fuß verändert sich – er wird kräftiger und robuster.“ Yona beobachtet das Phänomen auch bei ihren Mitarbeitern: „Die meisten probieren unsere Schuhe an und tragen ihre alten danach nur noch selten. Es ist, als ob sie aus einem Korsett entfliehen.“
Wohnzimmer als Firmenzentrale
Mit wöchentlichen Newslettern hält Wildling die Kunden bei der Stange und baut Spannung bis zum Launch einer neuen Kollektion auf. Je näher der Termin rückt, desto mehr Kunden öffnen die Newsletter: „So spüren wir schnell, welche Produkte am besten ankommen, und können die Produktion sofort anpassen.“ Mittlerweile zählt Wildling 135 Mitarbeiter. Als Firmenzentrale dient noch immer das Wohnzimmer der Familie. Die meisten Mitarbeiter sind wie Anna Yona selbst Mütter, die von zu Hause arbeiten. Das kommt der Firma aktuell in der Coronakrise zupass – das Arbeiten im Homeoffice bedeutet für Wildling keine Umstellung. Zugleich hält es die Kosten niedrig, weil keine Miete für Büroraum anfällt.
Dennoch muss das Unternehmen aktuell einen Einstellungsstopp verhängen. Die beiden Showrooms in Köln und Berlin, wo Kunden die Schuhe anprobieren und dann online bestellen können, blieben fünf Wochen lang geschlossen. Die zehn Prozent des Umsatzes, den die Geschäfte normalerweise generieren, brachen weg.
Der Einschnitt aktuell geht tiefer ins Fleisch: „Dies ist eine Sondersituation“, sagt Yona, „ab der zweiten Märzwoche kam es zu einem massiven Einbruch der Orders. Inzwischen hat es sich langsam erholt.“ Erstmals bezahlt Wildling für Onlinewerbung, um mehr Absatz zu generieren. Eigentlich hatte Wildling für 2020 weiter starkes Wachstum geplant. Jetzt muss die Gründerin mit ihren Lieferanten neu verhandeln. „Die Krise wirkt sich auf die Kaufkraft unserer Kunden aus. Die Menschen kaufen jetzt noch bewusster ein“, erklärt sie. Doch ihre Kunden sähen Wildling-Schuhe nicht als Luxus. „Wer sie gewöhnt ist, will sie nicht missen.“
Expansion in die USA verschoben
In diesem Jahr wollte Wildling in die USA expandieren. Das Unternehmen hatte einen Arbeitsplatz beim German Accelerator in New York gewonnen – doch die Mitarbeiterin ist wegen der Pandemie nach Deutschland zurückgekehrt. „Das war ein denkbar schlechter Zeitpunkt“, sagt Yona. Der internationale Versand läuft aber weiter, genau wie die Zusammenarbeit mit Influencern in Deutschland und den USA.
Die Kinder der Yonas – sieben, zehn und zwölf Jahre alt – haben sich inzwischen voll in Deutschland akklimatisiert. Sie sind begeisterte Wildling-Kunden: „Sie haben gesunde, breite Füße. In andere Schuhe passen sie gar nicht rein“, konstatiert Yona. „Eine Pumps-Karriere haben wir unseren beiden Mädchen definitiv ruiniert.“ ●
Direct-to-Consumer-Brands
Der Trend, mit einem Webshop direkt Konsumenten anzusprechen und dabei den klassischen Handel zu umgehen, stammt aus den USA. Dort erfreuen sich Marken wie der Matratzenversand Caspar, der Brillenhersteller Warby Parker, der Sockenhersteller Bombay oder der Rasierklingenvermarkter Harry’s rasender Beliebtheit. Mit geschickten Social-Media-Kampagnen positionieren sie sich perfekt bei ihren Zielgruppen. Der Dienstleister Arvato hat jüngst 52 Direct-to-Consumer-Marken untersucht und sie in vier Typen geclustert: „Die Design-Liebhaber“ wie der Uhrenhersteller Daniel Wellington; „Die Innovatoren“ wie Unterwäschehersteller ThirdLove; „Die sozial Engagierten“ wie die gehobene Schuhmarke Rothy’s und „Die Optimierer“ wie die Rasierklingenanbieter Dollar Shave Club und Harry’s. Wildling besetzt mit seinem Profil sowohl das Feld „Die Innovatoren“ wie auch „Die sozial Engagierten“.
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