Leere Regale, Warteschlangen vor Geschäften und lange Lieferzeiten für Möbel, Pkw oder Elektrogeräte – so sieht in der DDR der Einkaufsalltag aus. Gute Beziehungen zum Verkaufspersonal werden daher gepflegt, knappe Produkte gekauft, wenn sie erhältlich sind. Gleichzeitig haben viele Ostdeutsche dank Westfernsehen, Westverwandtschaft und Westpaketen die Warenfülle in der Bundesrepublik immer vor Augen. Es verwundert also wenig, dass sich die Kritik der Demonstranten während der Friedlichen Revolution 1989 in starkem Maße auch gegen die schlechte Versorgungslage richtet.
Unverkäufliche Warenbestände
Am 9. November 1989 verkündet Politbüromitglied Günter Schabowski die „sofortige, unverzügliche“ Reisefreiheit für alle DDR-Bürger – und ebnet damit den Weg zum Fall der Mauer und zur Deutschen Einheit. Gut ein halbes Jahr später, am 1. Juli 1990, wird die D-Mark zum offiziellen Zahlungsmittel in der DDR. Für die Händler heißt das, innerhalb nur eines Wochenendes ihr komplettes Sortiment umzustellen und alle Preise neu auszuzeichnen. Mit dem neuen Geld, das laut Bundesregierung „wirklich etwas wert ist“, sollen die Ostdeutschen endlich an der bunten Warenwelt Westdeutschlands teilhaben und sich lang gehegte Konsumwünsche erfüllen. Das sind eigentlich gute Voraussetzungen für die Transformation des ostdeutschen Einzelhandels, der überwiegend von den Geschäften der „Handelsorganisation“ (HO) und der Konsumgenossenschaften dominiert wird. Doch statt zu profitieren, fällt er „in ein tiefes Loch“, wie der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels (HDE) in seinem Arbeitsbericht 1990 nüchtern konstatiert.
Tatsächlich ist die Ausgangslage für einen erfolgreichen Start in die Marktwirtschaft denkbar schlecht: Die Geschäfte befinden sich meist in alten, von unterlassener Instandhaltung geprägten Gebäuden. Ihr Erscheinungsbild ist unattraktiv und unmodern. Die geringen Verkaufsflächen und die von viel Handarbeit geprägten Arbeitsabläufe entsprechen bei Weitem nicht modernen Anforderungen.
Mit der Währungsunion müssen die Händler viele Warenbestände aus DDR-Zeiten als unverkäuflich abschreiben. Gleichzeitig zerrt die Vorfinanzierung für die neuen Westprodukte an der geringen Liquidität. Hinzu kommt, dass die meisten Verkaufsstellen in der DDR eher zentral geleiteten Verteil- und Versorgungseinrichtungen gleichen. Ein eigenverantwortlicher Wareneinkauf, die Orientierung an Kundenbedürfnissen, Marktforschung und Marketing oder eine flexible Preisgestaltung sind nicht vorgesehen. Dementsprechend schwer fällt vielen Handelsbetrieben die Umstellung auf die ungewohnte unternehmerische Freiheit.
Für eine zusätzliche Verschärfung des Wettbewerbs sorgen vor allem westdeutsche Filialunternehmen. Nach D-Mark-Einführung und Deutscher Einheit bestehen für sie bei einem Engagement in den neuen Bundesländern kein Währungsrisiko und kaum noch rechtliche Unsicherheiten. Daher treiben die Ketten nun verstärkt den Aufbau eigener Handelsstrukturen voran.
Kaufkraft aufsaugende Zentren
Bereits 1991 erreicht ihr Anteil am wachsenden ostdeutschen Einzelhandelsumsatz 29 Prozent, 1995 sind es schon 60 Prozent. Auf dem Vormarsch sind dabei vor allem Discounter und große SB-Warenhäuser. Denn sie profitieren am stärksten von dem sich verschlechternden wirtschaftlichen Umfeld: Nach der Währungsunion bricht die Industrieproduktion in den neuen Bundesländern drastisch ein. Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit steigen stark an und führen dazu, dass die Ostdeutschen beim Einkaufen stärker auf den Pfennig achten.
Als bis heute nachwirkend erweist sich in der Wendezeit das Fehlen ausreichend großer und ausgestatteter Verkaufsräume in den Innenstädten. Neue Geschäfte entstehen vor allem an den Stadträndern, wo die Kommunen bevorzugt neues Bauland zu günstigen Konditionen ausweisen. Verkehrsgünstig gelegen, gibt es dort viel Platz für große Verkaufsflächen und kostenlose Parkplätze. Die Entwicklung wird vom Handelsverband kritisch begleitet: Der Bau „gewaltiger, Kaufkraft aufsaugender Einkaufszentren“ am Stadtrand lasse den Innenstädten und dem dort ansässigen Einzelhandel kaum Entwicklungschancen. Sie drohten zu veröden.
Insgesamt, so bilanziert der HDE jedoch in seinem Arbeitsbericht für 1993, befindet sich der ostdeutsche Einzelhandel schon nach wenigen Jahren „auf dem Weg zur Normalität“: Die Händler „haben gelernt, Bedarf beim Kunden zu erzeugen, mit wechselnden Nachfragetrends umzugehen und die Preispolitik den Erfordernissen anzupassen“. Auch Wettbewerb empfänden sie „nicht mehr als Bedrohung“. „Besorgniserregend“ sei aber der wachsende Verkaufsflächenüberhang. Er führt ab 1995 zu einem Konsolidierungsprozess, der sich in verstärkten Marktaustritten und zunehmender Konzentration äußert.
Der Wirtschaftshistoriker Marvin Brendel ist Betreiber von „Geschichtskombinat“, einer Agentur für wirtschafts- und unternehmensgeschichtliche Recherchen. Exklusiv für das handelsjournal verfasst er die Serie „Meilensteine des Handels“, die sich mit der Längsschnittanalyse handelsspezifischer Innovationen beschäftigt. Haben Sie Fragen, Kommentare, Ergänzungen? Dann schreiben Sie an: brendel@geschichtskombinat.de
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