Pro und Contra

Handel und Innenstadt – hat diese Liaison noch eine Zukunft?

Seit dem Mittelalter waren Stadtzentren die Heimat des Handels. Nun droht dieser Symbiose wegen der Abwanderung der Kunden ins Internet das Ende. Müssen künftig andere Funktionen für Leben in den Innenstadtlagen sorgen?

Von Michael Reink und Max Thinius 20.07.2022

© Yaroslav Danylchenko/Stocksy United

Neupositionierung: Vielerorts sind Leerstand und Verfall zu besichtigen. Kann der Handel durch neue Konzepte eine Trendumkehr hervorbringen?

Pro

Die Überformung der Innenstädte durch den Einzelhandel kommt zu ihrem Ende.“ Ein Satz, der in jüngster Zeit gern von einigen Stadtplanern ­triumphierend ausgesprochen wird. ­Dabei wird übersehen, dass viele Städte als Handelsstädte gegründet worden sind. Die damit verbundene „Überformung durch den Handel“ hat zu schmucken Kaufmannshäusern und zur städtebaulichen ­Attraktivität beigetragen. Etliche Handelsgebäude aus der jüngeren ­Vergangenheit stehen unter Denkmalschutz. Was soll also die „Überwindung der Überformung“ Gutes bringen?

Andere Funktionen werden den Handel nicht ersetzen können

Neben diesen städtebaulichen bestehen auch funktionale Effekte durch den Handel. Er sorgt mit großem Abstand am erfolgreichsten dafür, dass Menschen aus einem weiteren Einzugsbereich tagtäglich in die Innenstädte kommen. Das gilt auch in Zeiten der Digitalisierung und des vermehrten Online-Einkaufs. Jede andere Funktion einer Innenstadt, sei es das Wohnen, die Kultur, die Büronutzung, die öffentliche Verwaltung oder auch die Gastronomie, muss sich mit den Ausstrahlungseffekten des Handels messen lassen. Die wesentlichen vier Faktoren sind:

- Größe des Einzugsbereichs
- Häufigkeit des Besuchs
- Wertschöpfung (Einnahmen oder ­Ausgaben für die Kommune)
- Imagebildung

Beim Vergleich der genannten vier Punkte wird klar, dass beispielsweise die Kultur häufig von den Kommunen subventioniert werden muss. Wenn also die Kultur die Sogwirkung des Handels auffangen soll, würde dies in vielen Fällen kommunale Mehrausgaben bedeuten. Dies ist für Kommunen im sogenannten „Nothaushalt“ nicht zu machen, sodass diese vermeintliche Heilungskraft allein reichen Kommunen zur Verfügung steht. Zudem ist festzustellen, dass viele kulturelle Einrichtungen eher zum ­aperiodischen Bedarf zählen, also nur einige Male im Jahr besucht werden. Über die Kultur wird eine Kommune die positiven Effekte des Handels nicht ersetzen können.

Dasselbe gilt für das Wohnen. Weil die Innenstadtbewohner nicht tagtäglich von Hunderten Gästen besucht werden, erzeugt das Wohnen keine Ausstrahlungseffekte ins Umland. Das Wohnen hat, genau genommen, überhaupt keinen Einzugsbereich. Auch die Büronutzung wird sich infolge des Trends zum Homeoffice sukzessive aus den Innenstädten zurückziehen. Die ­gestoppten Bürohausentwicklungen großer Konzerne sind erste Zeichen dieses Trends.

Dennoch gilt: Die Multifunktionalität ist der wichtigste Schlüssel für die Entwicklung unserer Innenstädte. Dabei spielen das Wohnen, die Kultur, das Handwerk und Dienstleistungen ganz entscheidende Rollen. Es sollte jedoch nicht vergessen werden, welchen Joker die Verantwortlichen im Kartenspiel der Innenstadtfunktionen haben, der die Menschen tagtäglich aus einem großen Einzugsbereich in die Innenstädte lockt, der dabei für zusätzliche Gewerbesteuereinnahmen in den Kommunen sorgt, vielen Menschen Arbeit gibt und zusätzlich zu einem positiven Image sowie zu einer guten Versorgung der Bevölkerung mit Waren aller Art beiträgt: den stationären Einzelhandel.

Die Verantwortlichen sollten daher ein berechtigtes Interesse haben, nach wie vor ein gutes Umfeld für den Handel zu schaffen, da die Innenstädte durch einen attraktiven Einzelhandel insgesamt profitieren.

Contra

Es gibt inzwischen genug Studien, die belegen, dass Kleinkünstler und Musikgruppen die Innenstadt auch nicht retten können. Wer dann? Oder besser gesagt: Müssen wir die Innenstadt eigentlich retten? Oder ist sie nicht vielleicht ein längst überholtes Überbleibsel der Industrialisierung?

In der Vergangenheit sind kleine Einkaufsstraßen in den Stadtteilen immer mehr dem Angebot in den Innenstädten gewichen. Dann wichen die Innenstädte immer mehr den Handelsketten sowie den eigenen Mietpreisen, die meist für eine eher langweilige Durchmischung gesorgt haben: unten Handelsketten, Telekommunikationsläden, darüber Notare. Der Onlinehandel trägt daran weniger Schuld, als man denkt – ist nun aber der lachende Dritte.

Innenstadt wird wieder zum kulturellen Zentrum

Was passiert gerade in den Städten? Dort bilden sich neue Zentren. Nehmen wir als Beispiel mal Essen, weil es so schön Durchschnitt ist. Die Innenstadt sieht genauso aus wie oben beschrieben. Dafür bilden sich Stadtteile wie Rüttenscheid und neuerdings sogar das lange verschmähte Essen-West sowie auch Frohnhausen wieder aus; Bredeney kommt zurück. Allesamt kleine, alte Stadtteile mit lokalen Einkaufsmöglichkeiten: kompaktere Läden, neue Konzepte – viel mehr Lebensqualität und soziales Miteinander.

Den Onlinehandel wird es in der bestehenden Form in zehn Jahren nicht mehr geben. Und der Einzelhandel? Der kommt wieder. Allerdings in der oben beschriebenen neuen Form. „Vive les Quartiers!“ Paris hat die 15-Minuten-Stadt bereits ausgerufen. Eine Stadt, die nicht mehr auf Industrialisierung, sondern auf Lebensqualität ausgerichtet ist. Ohne Autos! Denn, das können wir europaweit aus allen beobachteten Städten sagen: Nur komplett ohne Autos gibt es neue Gestaltungsmöglichkeiten. Dann kann die Innenstadt wieder kulturelles Zentrum oder ein Ort für Lebensqualität und sozialen Austausch werden.

Dazu muss sie aber neu durchmischt werden. Zunehmend übrigens wieder mit Handwerksbetrieben. Denn auch das Handwerk kommt zurück. Tischler, die mit einer digital gesteuerten Maschine vor Ort Regale, Tische und Schränke für große, weltweit operierende Ketten produzieren. Dasselbe im Textilbereich: Mein digitaler Schneider nimmt 115 Euro für einen maßgeschneiderten Strickpulli aus lokal produzierter Wolle (direkt in Kopenhagen). Das sind „noch“ keine Massenpreise. Aber die Strukturen der Digitalisierung sind genau darauf ausgerichtet: kleine autarke Einheiten, die sich bei Bedarf vernetzen und zunehmend individueller werden – wie die Stadtteile.

Übrigens werden vor allem kleine und mittlere Städte davon profitieren. Denn deren Strukturen sind einfacher umzugestalten als die der Metropolen. Und sie haben mehr Nachholbedarf. Sie sind es auch, die zunehmend wieder wachsen werden, wohingegen Metropolen eher stagnieren oder sogar leicht schrumpfen – zumindest in Europa. In Asien gelten andere Regeln.

In diesen Städten wird man feststellen, dass, ganz nach Pariser Vorbild, die Daseinsvorsorge in 15 Minuten vor der Haustür zu erledigen ist. Die Innenstadt wird für kulturellen Austausch, neue Lebens- und Wirtschaftsqualität eine neue Bedeutung bekommen – aber nicht mehr zentral für den Handel sein.

Schlagworte: Innenstädte, Handel

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