Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges folgt die Stadtplanung nicht nur in Deutschland einem neuen Ansatz: Ganz im Sinne der 1933 verabschiedeten städtebaulichen Charta von Athen streben Experten im Schulterschluss mit den politisch Verantwortlichen eine Entzerrung der Städte und eine räumliche Trennung der Hauptfunktionen Arbeit, Wohnen und Erholung an. Unterstützt wird die Entwicklung durch die in den 1950er-Jahren einsetzende Massenmotorisierung und das parallel entstehende stadtplanerische Leitbild der autogerechten Stadt.
Breite Verkehrsachsen durchschneiden bald immer mehr Städte. Sie verbinden Stadtteile und Funktionsbereiche, ermöglichen aber auch den Aufbau neuer Handelsstrukturen an den Stadträndern – sehr zur Besorgnis des etablierten Einzelhandels in den Innenstädten. Ihm drohe „vor den Toren großer Städte an wichtigen Straßenverkehrsknotenpunkten neue Konkurrenz in Form regionaler Shopping-Center amerikanisch-kanadischer Prägung“, prophezeit die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels (HDE) in ihrem Jahrbuch für 1961.
Zu dieser Zeit beginnen an der Stadtgrenze von Sulzbach und Frankfurt/Main bereits die Bauarbeiten für das Main-Taunus-Zentrum. Errichtet wird das erste deutsche Shopping-Center nach nordamerikanischem Vorbild auf 220 000 Quadratmetern zuvor nicht erschlossener Fläche – der sogenannten „grünen Wiese“.
Alles unter einem Dach
Der Standort ist verkehrstechnisch gut gewählt: An der Kreuzung des bald zur Autobahn hochgestuften Schnellweges Frankfurt–Wiesbaden und der Bundesstraße Hoechst–Königstein gelegen, bietet er beste Möglichkeiten, vom rasant zunehmenden Individualverkehr zu profitieren. Neben den 70 Geschäften mit gut 40 000 Quadratmetern Verkaufsfläche entstehen daher auch 3 000 Parkplätze für die automobile Kundschaft.
Am 2. Mai 1964 wird das Main-Taunus-Zentrum eröffnet. Statt der erwarteten 100 000 Besucher kommen am ersten Tag 400 000 neugierige Gäste. Insgesamt zählt das Einkaufszentrum im ersten Jahr 2,5 Millionen Kunden, die in den Geschäften für rund 100 Millionen D-Mark Umsatz sorgen. Der Erfolg motiviert die Betreiber zum weiteren Ausbau: Bis 1970 werden 60 000 zusätzliche Quadratmeter grüne Wiese erschlossen, die Verkaufsfläche steigt auf 70 000 Quadratmeter, die Zahl der Parkplätze auf 5 000. Der jährliche Umsatz der Geschäfte verdoppelt sich auf 200 Millionen D-Mark. Das Konzept – zahlreiche Geschäfte mit vielfältigem Angebot unter einem Dach, leichte Erreichbarkeit mit dem Auto, gute Parkmöglichkeiten und wetterunabhängiges Einkaufen – gefällt den Kunden. Auch andernorts erfahren neue Shopping-Center viel Zuspruch, so beispielsweise der ebenfalls noch 1964 eröffnete Ruhrpark Bochum, das Donau-Einkaufszentrum in Regensburg (eröffnet 1967), der Ostseepark Schwentinental bei Kiel (1967) oder das Franken-Center in Nürnberg-Langwasser (1969).
Doch nicht allein die großen Einkaufszentren bauen auf der grünen Wiese. Ab den 1970er-Jahren zieht es zunehmend Baumärkte, Einrichtungshäuser, Elektronikhändler und andere große Fachgeschäfte ebenso wie Verbraucher- und Supermärkte auf neu ausgewiesene Gewerbeflächen an den Stadträndern. Letztere reagieren damit auch auf sich verändernde Einkaufsgewohnheiten der Deutschen. Denn mit dem eigenen Auto entdecken sie die Vorteile des wöchentlichen Großeinkaufs, für den sie bequem vor den Supermärkten parken wollen.
Einen weiteren Schub erhält das Konzept der grünen Wiese in den 1990er-Jahren durch die deutsche Wiedervereinigung. In den ostdeutschen Städten fehlt es damals insbesondere wegen ungeklärter Eigentumsfragen, mangelnder Erschließung und fehlender Bebauungspläne an nutzbaren Flächen für die schnell expandierenden Handelsgeschäfte. So entstehen auch in ihrem Umland zahlreiche neue Einkaufszentren auf frisch erschlossenen Flächen.
Revival der kurzen Wege
Spätestens mit Beginn der 2000er-Jahre zeichnet sich jedoch eine Trendumkehr von der grünen Wiese zurück in die Innenstädte ab – auch weil sich das Einkaufsverhalten der Menschen abermals wandelt: Der große Wocheneinkauf verliert an Bedeutung, stattdessen kaufen die Menschen lieber flexibel nach Lust und spontanem Bedarf. Zudem steigt gerade in den großen Städten die Zahl derjenigen, die kein Auto mehr besitzen und kurze Einkaufswege bevorzugen.
Die anfänglich große Besorgnis der innerstädtischen Einzelhändler, der Erfolg der Einkaufszentren auf der grünen Wiese gehe zu ihren Lasten, hat sich derweil nicht bewahrheitet. Angesichts der enormen Zunahme der Angebotsvielfalt und der Kaufkraft erweisen sich die Handelsflächen vor den Toren der Städte vielmehr als notwendige Ergänzung. Ernsthaft unter Druck gerät der Einzelhandel in den Innenstädten wie auch auf der grünen Wiese erst mit dem Aufschwung des Onlinehandels sowie durch die Auswirkungen der Coronapandemie.
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