Interview

„Stationäre Stärken digital ausbauen“

Geschäfte dürfen wieder öffnen, doch vielen klassischen Händlern fehlen nach wie vor Kunden und damit Umsatz. Warum digitale Lösungen beim Comeback helfen, verrät Xenia Giese, die bei Microsoft Kunden aus der Handels- und Konsumgüterbranche betreut.

Von Jens Gräber 29.09.2020

© iStock/artisteer

Xenia Giese: "Mehr Planbarkeit auch bei länderübergreifenden Liefer­ketten lässt sich durch maximale Transparenz gewährleisten, ­idealerweise auch in Echtzeit."

Viele Verbraucher meiden stationäre Läden, weil sie die Begegnung mit Mitarbeitern und anderen Kunden auf engem Raum fürchten. Wie lassen sich solche ungewollten Kontakte im Geschäft reduzieren?

Gedränge gibt es besonders häufig im Kassenbereich, deshalb sind Self-Check-out-Lösungen, die mithilfe des Smartphones der Kunden funktionieren, ein guter Weg. Weil diese das Handy nicht aus der Hand geben, muss nach dem mobilen Payment auch nichts desinfiziert werden. Unser Partner MishiPay rollt gerade zusammen mit dem Sporthändler Decathlon in Deutschland die Scan-&-Go-App aus, die Kunden genau das ermöglicht: Sie können per Smartphone überall im Laden die gewünschten Artikel scannen und bezahlen. Dabei wird die Diebstahlsicherung in den Etiketten deaktiviert, auch dafür muss der Kunde sich also nicht eigens anstellen. Das Start-up Rapitag bietet eine ähnliche Self-Check-out-Lösung, die sogar die automatisierte Überprüfung von bestimmten Kriterien ermöglicht, etwa des Mindestalters beim Kauf von Alkohol.

Viele Prognosen sagen eine dauer­hafte Verschiebung von Umsätzen weg vom stationären Handel voraus. Wie können sich kleine Händler darauf einstellen?

Die Coronakrise hat uns deutlich vor Augen geführt, dass ein Bedarfseinkauf im Internet für zahlreiche Verbraucher durchaus eine attraktive Variante darstellt. Ob sich daraus so ein großer Shift ergeben wird, wie jetzt viele prophezeien, wird sich noch zeigen. Wenn ein Händler nur stationär unterwegs ist und keine hybriden Modelle offerieren kann, hat er allerdings tatsächlich ein Defizit.

Und dann?

Je nach digitalem Reifegrad eines Händlers und finanziellem Handlungsspielraum gibt es unterschiedliche Optionen, das anzugehen. Wichtig ist, dass er vorher ein Konzept entwickelt. Idealerweise baut er Stärken aus dem stationären Handel digital aus: Wer etwa auf der Fläche viel Personal vorhält und diverse Services anbietet, sollte über eine Kunden-App nachdenken. Er kann mit einem Angebot zum Self-Scanning starten und dann weitere Funktionalitäten hinzufügen, etwa eine Feedback-Funktion, Instore-Navigation oder Couponing. Wenn die Kunden sowieso aus der Nähe kommen und oft anrufen, um Ware vorzubestellen, bietet sich ein intelligenter, auch online nutzbarer Click-&-Collect-Service an. Die Abholung lässt sich kontaktlos über einen Automaten abwickeln. Es gibt Modelle, die zur Bekämpfung von Viren und Bakterien über eine spezielle Beschichtung und UV-Licht in den Fächern verfügen.

Viel ist im vergangenen Jahr über Voice Commerce diskutiert worden. Ein guter Einstieg in den Multichannel-­Handel?

Das ist ein komplexes Thema, weil der Händler mit dem Hersteller des Smart Spea-kers kooperieren muss. Erfolgreicher Voice Commerce erfordert einiges an konzeptioneller Arbeit, deshalb ist das aus meiner Sicht nicht der Kanal, den man zuerst erschließen sollte. Klassischer E-Commerce oder Mobile Commerce sind stärker etablierte Kanäle, die der Kunde eher erwartet.

Die Krise hat auch die Verwundbarkeit von Lieferketten offenbart, vor allem über Grenzen hinweg. Nicht alle Händler werden als Reaktion darauf ihre Supply Chains regional aufstellen können – gibt es andere Möglichkeiten, sie besser abzusichern?

Mehr Planbarkeit auch bei länderübergreifenden Lieferketten lässt sich durch maximale Transparenz gewährleisten, idealerweise auch in Echtzeit. Als technologisches Werkzeug sind hier Dashboards im Einsatz, also Visualisierungen von Daten, die einen Überblick vermitteln. Sie zeigen beispielsweise, wo sich Liefereinheiten befinden und wo es Engpässe gibt. Technisch ist das eine Herausforderung, weil verschiedenste Systeme angebunden werden müssen.

Probleme schnell zu erkennen, ist gut, aber wäre es nicht besser, sie schon vorher zu vermeiden?

Das ist der nächste Schritt: durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz auch Prognosen anzubieten. Ist zum Beispiel eine schwierige Wetterlage in einer bestimmten Region zu erwarten, lässt sich mithilfe von KI schon frühzeitig eine Umleitung der Lieferung organisieren. Wir haben einige Partner, die daran arbeiten, so etwa das Big-Data-Unternehmen Blue Yonder. Was zudem helfen könnte, ist etwas ganz Banales: mehr Kooperation entlang der Lieferkette. Weil die Beteiligten in der Corona​krise gelernt haben, dass sie gemeinsam stärker sind, bin ich guter Hoffnung, dass sie in Zukunft häufiger zusammenarbeiten werden.

Xenia Giese (49) ist Industry Executive Retail & Consumer Goods bei Microsoft Deutschland. Seit sie vor sieben Jahren zum Software-Unternehmen wechselte, treibt Giese dessen Positionierung als Dienstleister für die deutsche Einzel­handels- und Konsumgüterbranche voran. Sie versteht ihre Rolle als die einer Übersetzerin zwischen IT und Handel. Beide Branchen kennt Giese gut: Sie war zehn Jahre im Einzelhandel für die Metro Group tätig und hat auch Erfahrungen beim US-Telekommunikations-Riesen Cisco Systems gesammelt.

Schlagworte: Interview, Vertriebskanäle, Lieferkette, Digitalisierung

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