Corona hat die Welt in einen wochenlangen Krankenstand versetzt; alle hoffen auf eine rasche Rekonvaleszenz. Wie ist der Patient Innenstadt durch die Pandemie gekommen?
Dem Patienten geht es nicht so besonders gut. Doch es ging ihm, zumindest aus Sicht des Einzelhandels, auch vor der Pandemie schon nicht gerade blendend. Die Innenstadt leidet schon lange, zuletzt vor allem unter der Umsatzverschiebung ins Internet. Zuvor kam die Bedrohung eher aus Richtung der „grünen Wiese“. So gesehen, haben wir es im Moment mit einem eher diffusen Krisenszenario zu tun. Derzeit machen den Innenstädten vor allem die schwachen Frequenzen zu schaffen. Der Handel darf zwar froh sein, dass sie sich momentan halbwegs stabilisieren – allerdings auf einem Niveau, das nur 75 Prozent im Vergleich zu den Zählungen des Vorjahres erreicht. Somit fehlt ein Viertel der potenziellen Kunden. Zugleich ist fraglich, wie viele Innenstadtbesucher tatsächlich einkaufen. Verschiedenen Umfragen zufolge hält die Maskenpflicht viele Konsumenten vom Shoppen ab.
Ist die Maskenpflicht tatsächlich das Problem?
Natürlich nicht. Das eigentliche Problem sind die vielen Insolvenzen und Schließungen. Darunter ist die angekündigte Aufgabe von mehreren Dutzend Karstadt-Kaufhof-Filialen sicherlich das prominenteste Beispiel. Schon jetzt raufen sich die kommunalen Spitzenverbände die Haare, denn mit jeder Warenhausschließung geht den Innenstädten ein wichtiger Anker verloren. Besonders dramatisch wird es für eine Kommune, wenn das Warenhaus der größte und wichtigste Magnetbetrieb war. Und selbst wenn der eine oder andere Standort gerettet werden kann, darf man sich nichts vormachen: Das Problem der Insolvenzen ist akut. Denn es betrifft nahezu die ganze Branche. Die Corona-Pandemie hat diese Dynamik nicht verursacht, sondern nochmals beschleunigt. Der durch den Lockdown bedingte sprunghafte Anstieg der Online-Umsätze erweist sich nun als Katalysator einer Entwicklung, die schon lange vorher begonnen hat.
Was heißt das konkret?
Gerade internationale Player konzentrieren ihr stationäres Geschäft auf die Hotspot-Standorte, also auf die guten Lagen großer Städte. Dort wird viel in große, moderne Filialen investiert, während die kleineren, nicht ganz so bedeutenden Standorte schließen. Das sind ernst zu nehmende Entwicklungen. Wir stehen im engen Austausch mit kommunalen Spitzenverbänden, denen ich immer sagen muss: In eurer Fußgängerzone schließt nicht nur Karstadt-Kaufhof, sondern es schließen fünf oder zehn Läden! Selbst wenn das Warenhaus vielleicht bestehen bleibt, werden ringsherum Geschäfte schließen. Noch ist nicht absehbar, wie das Gros der Händler aus der Coronakrise kommt. Ebenso wenig wissen wir, ob Maßnahmen wie der Rettungsschirm oder eine geplante Insolvenz den Weiterbestand sichern können und die Umsätze wieder anspringen. Doch wenn die Leitbranchen der Innenstadt, insbesondere der Textilhandel, wie im Mai dieses Jahres Umsatzrückgänge von 20 Prozent vermelden, wird das in vielen Fällen nicht zum Überleben reichen.
Das sind düstere Aussichten. Wie sind denn die Kommunen auf diesen Aderlass vorbereitet?
Wenn ich mich bei Kommunalvertretern sowie bei Planern und Beratern umhöre, wird die Frage nach der Leitfunktion der Innenstadt immer lauter. Bis vor Kurzem gab es keinen Zweifel, dass die Leitfunktion der Innenstadt der Einkauf war und der Handel damit die entscheidende Größe. Inzwischen mehren sich die Stimmen, die diese Rolle des Handels infrage stellen.
Wer in kleineren Städten oder Unterzentren unterwegs ist, braucht diese Stimmen gar nicht, der sieht selbst, dass der Handel dort als Leitfunktion ausgedient hat …
Das ist richtig. Dort dominieren in den Zentren andere Funktionen, also Dienstleistungen oder Büronutzungen. Der Einzelhandel konzentriert sich auf ein Fachmarktzentrum an der Peripherie. Doch ich meine nicht primär solche Kommunen, sondern Großstädte. Und da gibt es Vertreter aus dem Bereich der Stadtforschung, die die derzeitige Entwicklung als programmatische Chance verstehen.
Welche Potenziale sehen die Experten?
Es geht darum, die Stadt aus der, wie es in diesen Kreisen heißt, Umklammerung des Konsums zu befreien. Mindestens zwei Faktoren befeuern diesen Diskurs: zum einen der angespannte Wohnungsmarkt in den Großstädten, zum anderen die erodierende Bedeutung des Handels. Im Moment wird bei Stadtentwicklung vor allem über das Wohnen diskutiert, und entsprechend plädieren auch etliche Wissenschaftler dafür, die Stadt von morgen vor allem unter der Prämisse des Wohnens zu denken.
Was spricht aus Ihrer Sicht dagegen?
Ziemlich viel. Denn Wohnen ist von allen Innenstadtfunktionen die schwächste: Sie produziert keinen Bedeutungsüberschuss, von dem andere Innenstadtbereiche profitieren können. Das Wohnen genügt praktisch nur sich selbst. City- und Innenstadtfunktionen erzeugen unserem Verständnis von Urbanität entsprechend einen Bedeutungsüberschuss – dank der Konzentration von institutionellen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Funktionen, die Menschen auch von entfernteren Einzugsbereichen anziehen.
Doch ist nicht vor allem der Handel auf das Wohnen als Funktion angewiesen, wenn es um die Erreichbarkeit seiner Kunden geht?
Richtig. Der Handel braucht die räumliche Nähe zu seinen Kunden. Doch allein die in der jeweiligen Innenstadt ansässige Wohnbevölkerung entfaltet nicht genug Kaufkraft für einen differenzierten Einzelhandel mit einem großen Angebot. Da sind kleinere Gemeinden und Unterzentren, mit ihren geringen Einzugsgebieten von wenigen Kilometern, von Großstädten mit ihren zentralen Funktionen und weitreichenden Einzugsgebieten zu unterscheiden.
Welche zentralen Funktionen bleiben der Innenstadt jenseits touristisch bedeutender Attraktionen wie Museen, Sehenswürdigkeiten und Freizeitangeboten denn auf absehbare Zeit überhaupt?
Diese Frage stellt sich in der Tat. Denn auch die Innenstadt als Arbeitsplatz verliert an Bedeutung. Dieser Entwicklung hat die Corona-Pandemie Vorschub geleistet. Stichwort: Home-Office. Wenn sich auch Erwerbsarbeit in weiten Teilen dezentral organisieren lässt, sind die schicken, teuren Offices in den Innenstädten künftig überflüssig. Auf absehbare Zeit wird demzufolge der Büroimmobilienmarkt – und damit ein weiterer Innenstadtakteur – ziemlich unter Druck geraten.
Womit dann zugleich potenzielle Kunden des Innenstadthandels verschwinden. Mit welcher Funktion kann sich die Innenstadt künftig noch von anderen sozialen Räumen unterscheiden? Oder anders gefragt: Welche Idee von Stadt ist überhaupt realistisch?
Wir müssen anfangen, über Stadt nachzudenken, und zwar ausgehend von der Frage: Welchen Sinn hat Innenstadt in Zukunft? Aus meiner Sicht ist die Innenstadt ein Third Place, also ein Ort, den die Menschen gern aufsuchen, weil es dort architektonisch und städtebaulich schön ist, sich Gelegenheit zu Begegnung und Aufenthalt bietet und die Möglichkeit zur Kommunikation, analog wie digital, besteht. Wir müssen unsere Innenstädte als Wert an sich verstehen, den es aus Gründen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Identifikation mit einem Gemeinwesen zu erhalten und weiterzuentwickeln gilt. Kein Mensch muss zum Einkaufen noch in die Stadt kommen. Aber wenn er gern dorthin kommt, kauft er dort vielleicht auch ebenso gern ein. Wir können uns nicht mehr allein auf die Kraft des stationären Warenangebotes verlassen, sondern werden in Zukunft noch viel stärker auf ein gutes Umfeld angewiesen sein, mit dem wir als Einzelhandel in einer immer engeren Wechselbeziehung stehen.
Kommentare
Falls die Handelslandschaft der Innenstädte noch zu retten ist, dann nur durch ein vom Internet abweichendes Sortiment, das auch noch besser sein sollte. Ich sehe das leider nicht. Damit wäre das Sterben der gewohnten Innenstadtstrukturen unabwendbar.
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Riechen, schmecken, hören, erleben. Live und in Farbe. Das wird das Internet nicht vermitteln können. Auch nicht der online-Handel. Ich muss erhöhten "Speichelfluss" entwickeln, wenn ich z. B. die nächst gelegene Kleinstadt mit ihrer Bummelmeile besuchen möchte. Lärmender, stinkender Verkehr raus aus City, dafür begrünte und vor allem beruhigende
Aufenthaltsbereiche für Besucher schaffen. Durch Bündelung aller Interessen der Beteiligten, also auch Vermieter und Kommune, beispielsweise alle 4 - 8 Wochen Ereignisse anbieten, wie z. B. Kleinkunst, Comedy, Speakers Corner. Viele
Kulturschaffenden, aber auch kleine Familienzirkusunternehmen, stehen abrufbar bereit. Die Innenstadt auch mal etwas crazy dekorieren, z. B. Regenschirme in Regenbogenfarben an Spannseilen über die Einkaufsmeile aufhängen. Ich meine, es ist die Summe aller Erlebnisse, die der einpendelnde Konsument oder Tagestourist wahrnimmt und als Unterschei-dungsmerkmal abspeichert. Nicht die Einzelhändler vorrangig nach ihren Wünschen fragen, sondern den Kunden, den ich begeistern möchte. Die Bewohner zum Brainstorming einladen. Mut zu ungewöhnlichen Entscheidun-gen und Mut zum Risiko, daß auch mal etwas in die Hose gehen kann. Anfangen, anpacken, machen.
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