Was den Stadtzentren im Moment tatsächlich zusetzt, ist nicht so sehr die Coronapandemie, sondern Rufmord. „Wenn man den Menschen ein Jahr lang erzählt, dass die Innenstädte tot sind, glauben sie irgendwann daran“, sagt Barbara Possinke. Für die Architektin aus Düsseldorf kommen die Nachrufe auf die Stadtzentren nicht nur verfrüht – sie drohen gar zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu werden.
„Es sollte nach den monatelangen Beschränkungen vielmehr darum gehen, der großen Sehnsucht nach sozialer Interaktion mit einer positiven Vision der Innenstadt zu begegnen“, fährt sie fort. Denn sobald wir die Pandemie überwunden haben, streben die Leute wieder in die Zentren, um einzukaufen, auszugehen, sich zu treffen und etwas zu erleben. Und der Ort für all das, so Possinke, wird „der totgesagte öffentliche Raum in den Städten“ sein.
Diese Zuversicht teilen derzeit nicht viele Experten. So rechnet der Handelsverband Deutschland (HDE) mittelfristig mit 50.000 Ladenschließungen in der Fläche; derzeit sehen allein 60 Prozent der vom HDE befragten Einzelhändler ihre Existenz angesichts der Pandemie akut gefährdet. Lässt der unbestrittene Aderlass im stationären Handel nicht auch die Innenstädte ausbluten?
Explodierendes Warenangebot
Barbara Possinke sieht darin eher eine zwar schmerzhafte, aber ebenso unvermeidbare wie notwendige Gesundschrumpfung. „In den vergangenen drei Jahrzehnten haben unsere Städte einen enormen Zuwachs an Verkaufsfläche erlebt“, erklärt sie. Das Warenangebot sei förmlich explodiert, der Handel habe darauf mit immer neuen Formaten auf immer mehr Quadratmetern in immer größeren Strukturen reagiert. Die Statistik gibt ihr recht: Allein von 1990 bis 2019 erhöhte sich die Verkaufsfläche in Deutschland von 77 Millionen auf 125 Millionen Quadratmeter; mit einer Pro-Kopf-Rate von 1,45 Quadratmetern Verkaufsfläche gehört Deutschland zu den Top Ten in Europa.
„Die so trainierte Erwartungshaltung der Verbraucher an eine weitgehend unbegrenzte und jederzeit verfügbare Produktvielfalt hat letztlich auch dem Onlinehandel zum Durchbruch verholfen“, resümiert Possinke. „Denn die im Internet mögliche Sortimentsbreite und -tiefe stößt in der Fläche naturgemäß an ihre räumlichen Grenzen.“
Barbara Possinke hat das Expansionsstreben des Handels gewissermaßen am Zeichenbrett verfolgt. Die geschäftsführende Gesellschafterin bei RKW Architektur, ein Büro, das mit mehr als 400 Mitarbeitern an fünf Standorten zu den wenigen ganz großen der traditionell kleinteilig organisierten Planungsbranche in Deutschland gehört, beschäftigt sich schon mehr als 30 Jahre lang mit Handelsimmobilien. „Als ich 1987 bei RKW anfing, gehörten Unternehmen wie Horten oder Kaufhof schon lange zu unseren Bauherren“, erinnert sie sich. Der Einzelhandel war für das 1950 gegründete Büro von Anfang an ein Schwerpunkt.
Deshalb hat die Architektin nicht allein aus Kundensicht erlebt, wie sich die Handelsformate und -bauten über die Jahre veränderten; sie konnte mit ihrer Arbeit den Wandel des Einkaufens immer auch vorwegnehmen und mitgestalten. Von den sorgsam renovierten Einkaufspassagen des 19. Jahrhunderts in historischen Altstädten über die Warenhäuser oder später dann die Fachmarktzentren mit Autobahnanschluss bis hin zum Boom der großen Shopping Malls – für die sich wandelnden Ansprüche des Einzelhandels und seiner Kunden hat sie mit RKW die entsprechenden Lösungen entwickelt und ist darüber zur Branchenkennerin avanciert. Zudem ist Possinke als Vorstandsmitglied von Urbanicom, dem Deutschen Verein für Stadtentwicklung und Handel, und als Dozentin der International Real Estate Business School (IREBS) eine der meistgefragten Expertinnen, wenn es um die räumliche Dynamik des Einzelhandels geht.
Das Unternehmen
RKW Architektur, 1950 gegründet als Architekturbüro Rhode Kellermann Wawrowsky, gehört zu den größten Planungsbüros in Deutschland und beschäftigt mehr als 400 Mitarbeiter an fünf Standorten. Bauten für den Einzelhandel gehören seit Beginn an zu den wichtigsten Planungsaufgaben. Neben Warenhausprojekten für Unternehmen wie Horten, Karstadt und Kaufhof hat das Büro auch Großvorhaben wie das Centro in Oberhausen und das Milaneo in Stuttgart realisiert. Die Transformation des Einzelhandels spiegelt sich mittlerweile auch in der Arbeit der Architekten wider: Umbauprojekte im historischen Kontext oder Revitalisierungsstrategien für kleinere und mittlere Kommunen bilden einen neuen Schwerpunkt.
Ungezügelte Flächenausdehnung
Die durch Corona lediglich beschleunigte Verlagerung großer Umsatzanteile vom stationären ins Onlinegeschäft versteht die erfahrene Planerin vor allem als Chance für die weitgehend auf den Handel ausgerichteten Stadtzentren. Denn die gegenwärtige Klage über die Verödung zeigt vor allem auf, wie fatal sich die räumliche Konzentration auf eine einzige Funktion auswirkt: Wenn die Menschen zum Einkaufen nicht mehr in die Stadt gehen, es dort aber kaum etwas anderes gibt als die immer weniger frequentierten Geschäfte, ist eine wirtschaftliche und atmosphärische Auszehrung unvermeidlich. Doch das Zentrum als physischer Ort bleibt erhalten – und steht nun vor einer Neubestimmung. Dafür brauchen alle maßgeblichen Akteure – von den Kommunalpolitikern über Händler, Gastronomen und Dienstleistungsanbieter bis hin zu Stadtplanern und Architekten – ein neues Bewusstsein für die Innenstadt. Der in den fetten Jahren des stationären Einzelhandels genährte Glaube an ein unendliches Wachstum sowohl der Umsätze als auch der Verkaufsflächen ist zwar bereits tief erschüttert. Es fehlt aber häufig noch an Vorstellungen von dem, was ein lebendiges Zentrum außer Einkaufsmöglichkeiten bieten muss. „Im Zuge der ungezügelten Ausdehnung von Handelsflächen haben wir zugunsten von eigentlich ungeeigneten Standorten in der Peripherie die städtische Mitte aus den Augen verloren“, konstatiert Possinke.
Umgeleitete Kundenströme
Deshalb könne es bei der allenthalben beschworenen Rettung des lokalen Einzelhandels nicht um lebensverlängernde Maßnahmen für stadtferne oder -feindliche Lagen gehen. Stattdessen plädiert die Architektin für einen radikalen Realismus im Umgang mit nicht mehr tragfähigen Strukturen: gezielter Rückbau, sprich: wenn nötig, auch ein Abriss. „Auch wir werden punktuell mit dem Leerstand in den Erdgeschossen der Innenstädte zu tun haben oder aber mit dem Phänomen sogenannter ‚Dead Malls‘, also leer stehender Einkaufszentren“, analysiert Possinke realistisch.
Für Investitionen in die Erhaltung dieser zum Teil überkommenen Formate sieht sie mit Blick auf die Stärkung der Zentren keine Notwendigkeit, aus Gründen der Nachhaltigkeit ebenso wenig. Und sie schiebt hinterher: „Die Geschichte verfährt gerecht mit diesen Standorten.“ Die hätten schon ganz andere Krisen überstanden. Für ihren Optimismus in Sachen Innenstadt führt die Architektin gute Gründe an. Einer davon heißt „Crown“.
Das ehemalige Kaufhof-Gebäude, gelegen an der prominenten Kreuzung von Berliner Allee und Graf-Adolf-Straße in Düsseldorf, blieb trotz der bevorzugten Lage zwischen Hauptbahnhof und Königsallee hinter den wirtschaftlichen Erwartungen der Betreiber zurück und wurde 2014 geschlossen. Bei der Konzeption für eine Nachnutzung kam es dem damit beauftragten Team von RKW entgegen, dass das Gebäude aus den 1950er-Jahren seinerzeit vom Bürogründer Helmut Rhode entworfen wurde und der Umbau somit gewissermaßen in der Familie blieb.
Anstelle einer sortenreinen Einzelhandelsnutzung beherbergt das nach Teilrückbau und Ergänzung grundständig erneuerte und 2018 eröffnete Eckhaus nun ein Hotel mit 191 Zimmern, ein Parkhaus sowie eine Filiale von Edeka Zurheide. Klingt zunächst unspektakulär. Doch dem gut 12.000 Quadratmeter Verkaufsfläche umfassenden Frischemarkt ist laut Possinke mittlerweile der Beweis gelungen, dass sich Kundenströme mit dem richtigen Angebot tatsächlich umdirigieren lassen. In diesem Fall führt sie der Wochenendeinkauf wieder zurück in die Stadt und nicht hinaus zu einem suburbanen Verbrauchermarkt.
Die spektakulär gestaltete und mit Branchenpreisen ausgezeichnete Zurheide-Filiale bietet den notorisch verwöhnten Düsseldorfer Luxuskunden ebenso wie preisbewussteren Verbrauchern das jeweils passende Sortiment: Von Manufaktur-Delikatessen bis zu Discount-Angeboten – der Markt führt praktisch alles. „Anfangs hatte Zurheide noch Probleme“, räumt Possinke ein. „Doch mittlerweile hat sich herumgesprochen, dass der Supermarkt eine enorme Warenfülle und dazu auch großartige gastronomische Angebote vorhält. Ich gehe selbst jeden Samstag dort einkaufen und bin begeistert.“
Überkommene Bauordnung
Das Konzept ist aufgegangen: Aus dem Verlust des Warenhauses ist ein Gewinn für die Düsseldorfer Innenstadt geworden. Doch funktioniert so ein Ansatz auch in Kommunen, denen es an wirtschaftlicher Stärke und Kaufkraft ebenso mangelt wie an einer hinreichend hohen Kundenfrequenz? Anders gefragt: Sollten die von Verödung und Abwanderung geplagten kleinen und mittleren Städte etwa Hoffnung schöpfen, nur weil die Transformation einer Handelsimmobilie in Düsseldorfer Bestlage geglückt ist?
Die Hoffnung für kleine und mittlere Städte ruht laut Barbara Possinke auf zwei Faktoren: Wohnungsmarkt und Digitalisierung. „Die Entwicklung der Immobilienpreise in den großen Städten führt dazu, dass Familien abwandern und gezielt in den bislang von Bevölkerungsschwund betroffenen Gemeinden nach Wohnraum suchen. Zahlen belegen diesen Trend eindeutig“, erläutert sie. „Zugleich erleichtert die Digitalisierung eine stärkere Dezentralisierung von Arbeit.“ Zu den größten Profiteuren dieser Dynamik, da ist sie sich sicher, gehörten die kleinen und mittleren Städte auch abseits der Speckgürtel. „Überall dort, wo Menschen leben, sind auch Handel, Dienstleistungen, Infrastruktur“, sagt sie und verweist auf Projekte, die ihr Büro für Herten, Detmold oder Meinerzhagen betreut.
Dort entwickelt RKW zusammen mit den Kommunen auf innerstädtischen Grundstücken neue urbane Zentren mit Mischnutzungen, in denen Geschäfte eine wichtige Rolle spielen. Doch auch wenn die Bereitschaft zu grundlegenden Veränderungen sowohl bei den Entscheidungsträgern vor Ort als auch bei den Unternehmen groß ist – die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Umsetzung tragfähiger neuer Konzepte sind alles andere als zeitgemäß. „Uns fehlen die richtigen Werkzeuge“, klagt die Architektin. „Bauordnung oder Bauleitpläne hinken der Entwicklung um Jahrzehnte hinterher; jede Nachnutzung erfordert unglaublichen bürokratischen Aufwand, der am Ende auch abschreckt.“
Bei allen Problemen, die die Branche derzeit plagen, sieht Possinke den Handel auch weiterhin als zentralen Innenstadtakteur – sofern es den stationären Betrieben gelänge, ein neues Selbstverständnis zu entwickeln. „Schon der Begriff ‚Einzelhandel‘ ist eigentlich veraltet“, stellt sie fest. „Ein Einzelhändler, der einzeln agiert, kann nicht mehr erfolgreich sein. Wer sich behaupten will, wird es nur in Netzwerken schaffen, sowohl in der digitalen Welt als auch ganz konkret vor Ort.“
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