Gucci hat den Schuss gehört und ist losgestartet, ebenso wie Zara, Burberry, Ralph Lauren, Balenciaga oder Boss – und das sind nur einige bekanntere Vertreter einer Branche, die versuchen, im beschleunigenden Streetcar named Virtual Fashion einen Platz zu ergattern. Wer jetzt nicht Gas gibt, wird auch in Zukunft zu den Abgehängten gehören, sagen die Streckenplaner.
Das Ziel der Rennerei heißt virtuelle Mode: digitale Kleidung und Accessoires, die im Internet 3.0, dem sogenannten Metaverse, große Gewinne versprechen. Durch die Ausstattung von Avataren in Computerspielen, durch Aufmerksamkeit schaffende Marketingaktionen und den Handel mit Non-Fungible-Token (NFT): exklusiven, ausschließlich digitalen Stücken für echte Menschen.
Eine Menge Geld soll sich mit diesen Modellen verdienen lassen. Durch alle Bewertungen zur künftigen wirtschaftlichen Bedeutung virtueller Kleidung zieht sich wie ein roter Faden eine Summe: 50 Milliarden Dollar. Fünfzig. Milliarden. Dollar. So viel, prophezeit die Investmentbank Morgan Stanley, könnte bis 2030 in die Taschen von Unternehmen vor allem aus dem Luxussegment wandern, wenn sich das Shoppen im Metaverse etabliert. Moment, Shoppen gehen im was? Das Metaverse ist eine Art dreidimensionale Erweiterung des Internets, dezentral angelegt, eine digitale Version der realen Welt, in die Menschen eintauchen und sie mitgestalten können, wo digitale Objekte austausch- und handelbar sind – wie beispielsweise virtuelle Mode.
Echtes Geld für virtuelle Waren
Aber ist der Betrag, den Morgan Stanley für die darin steckenden Chancen nennt, tatsächlich realistisch, Herr Berg? Achim Berg ist Senior Partner bei der Unternehmensberatung McKinsey und leitet die globale Apparel, Fashion and Luxury Practice. Er sagt: „Ich glaube, dass virtuelle Mode ein wichtiges Thema für die Hersteller ist. Wer es außer Acht lässt, wird mittelfristig abgehängt – und ist weg vom Fenster. Digital Fashion hat das Potenzial, Umsatz zu generieren.“
2022 wird zwar aus der Modebranche noch niemand mit dem Metaverse Geld verdienen – andere auf diesem Spielfeld schon. Es ist wie beim kalifornischen Goldrausch in den 1850er-Jahren: Die größten Gewinne machten nicht die Goldschürfer, sondern diejenigen, die ihnen Schaufeln verkauften.
Berg: „Viele Aktionen im Metaverse werden momentan aus Marketingbudgets finanziert. Davon profitieren jene Unternehmen, die die Projekte umsetzen und dazu beitragen, dass Standards gesetzt und Tools entwickelt werden.“
Doch Misteln brauchen den Baum, auf dem sie gedeihen und von dem sie leben, sie sind darauf angewiesen, dass dieser kräftig ist und wächst. Auch die Modefirmen tun einiges, um aus dem noch relativ kleinen Keim der Virtual Fashion etwas heranzuziehen, das Bestand haben kann.
Seit dem vergangenen Dezember beispielsweise unternimmt Ralph Lauren, amerikanischer Hersteller mittelluxuriöser Mode, erste Schritte im Metaversum und bietet dort digitale Bekleidung an. Das Vertriebsmodell erinnert an die typische Shop-in-Shop-Strategie des Unternehmens, das oft eigene Bereiche in gehobenen Abteilungen großer Warenhäuser betreibt: Die rund 48 Millionen Zocker der Videospiel-plattform Roblox können ihre Avatare in die digital existierenden Geschäfte von Ralph Lauren spazieren lassen und ihnen dort neue Klamotten überziehen. Die realen Designerstücke der Marke liegen normalerweise im Höherpreissegment – im Metaverse kostet ein Teil ungefähr drei bis fünf Dollar. Echtes Geld, klar.
Digitale Unikate
„Bei diesem Modell macht’s die Masse“, sagt Carl Tillessen vom Deutschen Modeinstitut. „Wenn Sneaker für die Skin eines Avatars, also dessen äußere Erscheinung, 2,50 Euro kosten, klingt das nach einem Schnäppchen – aber wenn die Kids genug davon kaufen, ist es ein Millionengeschäft.“
Deutlich höhere Preise rufen die Hersteller von Luxusmode wie Balenciaga oder Gucci für ihre digitalen Produkte auf. Gucci zum Beispiel schaffte es jüngst, eine virtuelle Handtasche für mehr als 4.000 Dollar zu verkaufen, also teurer als die reale Version. Der US-Gigant Nike ist im Metaverse unterwegs, und ebenso auf sportliche Interessengruppen zielt das Feinzwirnunternehmen Boss, das mit dem amerikanischen Unternehmen Russell Athletic eine digitale Kooperation eingegangen ist.
Die größte Aufmerksamkeit für virtuelle Mode erzielen jedoch Aktionen wie die des Pariser Labels RTFKT. Auch die Entwürfe der drei Gründer existieren ausschließlich digital, und alle sind sogenannte Non-Fungible Token (NFT), nicht austauschbare Objekte. Herstellung, Eigentumsnachweis und Handel werden in einer Blockchain abgesichert. In der Kunstwelt sind NFTs bereits seit Längerem gängig. So versteigerte das Auktionshaus Christie's die rein digitale Bildersammlung „The First 5000 Days“ des Künstlers Beeple im März 2021 für 69 Millionen Dollar – die jeder weiterhin umsonst im Netz anschauen kann. Vergleichsweise bescheiden nehmen sich die 3,1 Millionen Euro aus, die RTFKT für 600 Paar digitale NFT-Sneaker, jedes ein Unikat, erzielt hat. Sieben Minuten nach dem Start der Aktion waren sämtliche Schuhe verkauft.
Koexistierende Parallelwelten
Der Coup vereint den Handel mit teuren Objekten und spektakuläres Marketing. „Mit solchen Aktionen suchen Firmen Aufmerksamkeit“, sagt Tillessen, „und verstärken einen Hype, der Menschen mit viel Geld anzieht. Ich bin skeptisch, ob virtuelle Mode insgesamt sich langfristig halten kann – aber das kann jetzt noch niemand wissen.“
Eine weitere Einschätzung von Tillessen ist vor allem für den Einzelhandel interessant: „Falls virtuelle Mode sich dauerhaft etablieren kann, werden zwei Parallelwelten koexistieren, die sich kaum berühren werden: auf der einen Seite hochwertige Kleidung für Feste und Alltag wie etwa Herrenanzüge, geschneidert aus Stoffen, deren Haptik und Optik nur im Laden erfahren werden kann und deren Herstellung Zeit braucht. Auf der anderen Seite Mode, die wir digital tragen und in der wir eine Kultur ausleben können, die in ihrer Vielfältigkeit gerade erst begonnen hat.“
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