Porträt

„Der Mensch hat ein kurzes Gedächtnis“

Pandemie und ein Krieg im Herzen Europas haben die Anfälligkeit internationaler Lieferketten offenbart. Wie der Gründer des Supply-Chain-Spezialisten Blue Yonder, Michael Feindt, mit künstlicher Intelligenz für steten Warenfluss in volatilen Zeiten sorgt.

Von Mirko Hackmann 28.03.2023

© Gene Glover

Algorithmiker: Michael Feindt, Gründer der Softwareschmiede Blue Yonder, realisiert smarte Supply Chains für einige der größten Handels- und Logistikunternehmen der Welt.

Der französische Existenzialist Albert Camus hat einst den Satz geprägt, dass wir uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen müssen. Obwohl er nicht Tag für Tag einen Felsblock den Berg hinaufrollt, gilt das auch für Michael Feindt. Anders als die mythologische Figur arbeitet er sich zwar nicht an einem wachsenden Massiv aus Stein ab, sondern an der Analyse gigantischer Datenberge aus Bits und Bytes — und das mit großer Freude. Aus Feindt spricht ein von der Komplexität der Dinge Begeisterter, ein genialischer Tüftler, der schon als Kind Schaltkreise zusammensteckte und die allerersten Rechner auseinandernahm. „Ich arbeite nie. Ich lebe davon, zu tun, was mich interessiert“, sagt der Experimentalphysiker.

Der Gründer, später Chief Scientific Officer und jetzt Strategic Advisor von Blue Yonder, einem der weltweit führenden Softwarehersteller für digitale Supply-Chain-Transformation and Omnichannel- Fulfillment, empfängt, wo 2008 mit 15 Mitarbeitern alles begann: am Stammsitz in einem Karlsruher Industriegebiet, etwa zehn Autominuten entfernt vom Karlsruher Institut für Technologie. Dort hat Feindt seit 1997 eine Professur inne, die seit der Internationalisierung seines Unternehmens im Jahr 2015 ruht. In der seither vorlesungsfreien Zeit entwickelte Feindt nicht nur seinen Neuro-Bayes-Algorithmus und andere Algorithmen weiter, sondern überzeugte auch Kunden in aller Welt davon. „Mehr als zwei Drittel der größten Retailer und Logistikunternehmen setzen auf Blue-Yonder-Lösungen“, sagt der 64-Jährige.

Stresstest für die Lieferketten

Für die genannten Branchen haben die Prognosen des Unternehmens mannigfaltiges Potenzial: von Trenderkennung und Vorratsplanung über Disposition, Abverkaufsprognosen und dynamisches Pricing bis hin zur automatischen Einkaufsentscheidung und Retourenoptimierung. Personenbezogene Daten verwendet das Unternehmen nicht, in der Regel geht es um Bezugsvariablen wie Filialen oder Einzelartikel. Neben den großen Datenmengen, die bei den Unternehmen ohnehin vorliegen, fließen in die Berechnungen rund 200 Einflussgrößen wie Wetterdaten, Wirtschaftsindikatoren, Social-Media Rauschen sowie online verfügbare Preisinformationen ein.

Gesperrte Häfen, weltweiter Containermangel, ein über Wochen blockierter Suezkanal und schließlich noch ein Krieg in Europa samt Sanktionen und Blockaden – die vergangenen Jahre waren für die Lieferketten dieser Welt ein gewaltiger Stresstest. Es kam zu Versorgungslücken und Mangelsituationen, wie man sie in der westlichen Welt seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr kannte. Die auf Effizienz getrimmte globalisierte Wirtschaft mit ihrer Just-in-time-Produktion drohte in Teilen zu kollabieren. Aber was geschah, als Corona zu wüten begann, die Konsumenten hamsterten und die Lieferketten rissen? „Die meisten Händler bekamen Angst und schalteten unser automatisches System rasch ab“, berichtet Feindt. „Dabei wusste der Algorithmus nach zwei Tagen Bescheid und hat entsprechend den Entwicklungen und dem Kaufverhalten umdisponiert.“

Hier zeigte sich die Überlegenheit von Big Data und Machine Learning gegenüber dem menschlichen Gehirn, Entscheidungen unter großer Unsicherheit zu treffen. „Sobald viele Variablen ins Spiel kommen, wir es also mit komplexen und womöglich sogar nichtlinearen Systemen zu tun haben, sind Algorithmen uns weit überlegen und liefern wesentlich präzisere Prognosen und Entscheidungen“, betont der gebürtige Berliner.

Hätten seine Maschinen also Putins Krieg gegen die Ukraine oder die Gasmangellage vorhersehen können? „Solche Black-Swan-Ereignisse sind unmöglich zu prognostizieren“, sagt Feindt. Die Methoden von Blue Yonder seien vor allem erfolgreich darin, Voraussagen zu treffen in Fällen von ähnlichen Dingen, zu denen sehr viele Beobachtungen aus der Vergangenheit vorliegen. Abverkäufe in Läden beispielsweise. „Über die Jahre haben wir Daten zu etwa einer Billion, also 1 000 Milliarden Einkaufsentscheidungen gesammelt. Auf dieser Basis findet eine stete Optimierung des selbstlernenden Systems statt, deren Ergebnisse wir schon nach wenigen Tagen mit der Realität abgleichen können“, erklärt Feindt.

Dem Gottesteilchen auf der Spur

Das Handling und die Interpretation derart großer Datenmengen ist der Grundlagenforscher aus seiner akademischen Vergangenheit gewohnt: Mit einem internationalen Team war Feindt viele Jahre am CERN und anderen Teilchenbeschleunigern in Deutschland, den USA und Japan auf der Suche nach Elementarteilchen, unter anderem dem sogenannten Gottesteilchen Higgs-Boson, und hat deren Eigenschaften vermessen.

„Um beispielsweise dunkler Materie auf die Spur zu kommen, ließen wir in endlosen Reihenuntersuchungen Teilchen mit der gigantischen Energie von 6,5 Teraelektronenvolt pro Strahl auf der 27 Kilometer langen unterirdischen Umlaufbahn kollidieren“, erläutert der Experimentalphysiker das Vorgehen der Forscher. Das Ergebnis: unvorstellbare Mengen von Messdaten. Daraus versuchten sie, die minimalen Abweichungen herauszudestillieren, die als Beleg für die Existenz der gesuchten Higgs-Bosonen dienen könnten – trotz modernster Computertechnologie eine Sisyphosaufgabe. Ungefiltert und auf CD gebrannt, ergäben die Informationen, die in dem Teilchenbeschleuniger pro Sekunde anfallen, einen Stapel so hoch wie der Eiffelturm.

Wissenschaft betreibt Feindt auch als Unternehmer weiterhin Tag für Tag. „Das ist nun einmal das Feld, mit dem ich mich am liebsten beschäftige. Hier schreibe ich alle möglichen Sachen hinein, die mir durch den Kopf gehen“, sagt Feindt, auf eine dicke blaue Kladde deutend. Die Seiten sind eng beschrieben mit Zahlen, Formeln und Skizzen, deren Sinn sich wohl nur wenigen Spezialisten erschließt. Es gelte, das Niveau der angebotenen Services stets weiter zu optimieren.

Etwa die andere Hälfte seiner Zeit widmet Feindt, verheiratet und Vater zweier erwachsener Kinder, dem operativen Geschäft sowie repräsentativen Aufgaben: Er berät sich regelmäßig mit Projekt- und Produktleitern, sodass die Ergebnisse seiner Beschäftigung mit „tiefer Wissenschaft“ in der Praxis Früchte tragen, jettet um die Welt, um Kunden zu besuchen, auf Messen und Konferenzen aufzutreten oder an CEOCircles teilzunehmen.

Forschung weiter vorantreiben

Dabei hat sich der Radius seiner Aktivitäten seit der Gründung seiner ersten Firma Phi-T im Jahr 2002 immer weiter globalisiert. Zunächst konnte Feindt 2008 die Otto Group von der Gründung des Joint Ventures Blue Yonder überzeugen, 2014 schoss dann das New Yorker Private-Equity-Unternehmen Warburg Pincus als zweiter Investor 75 Millionen Dollar zu. Von da an war der Gründer sicher: „Jetzt machen wir etwas ganz Großes daraus.“ Und so war es auch: 2018 übernahm der amerikanische Softwareanbieter JDA die Karlsruher und firmierte – obwohl selbst um ein Vielfaches größer – das Gesamtunternehmen 2020 in Blue Yonder um. Im September 2021 schließlich erhöhte der japanische Elektronikriese Panasonic seine im Juli 2020 erworbenen Anteile von 20 auf 100 Prozent. Die Investition bewertet Blue Yonder mit 8,5 Milliarden US-Dollar.

Ein wenig fremdelt Feindt mit seiner neuen Rolle.Strategic Advisor ist er zwar gerne, aber dass er jetzt nicht mehr für 150, sondern plötzlich 5 000 Mitarbeiter Mitverantwortung trägt, empfindet er als „seltsam“. „Die kennen mich alle, aber ich kenne nur wenige, das ist schwierig“, bekennt er. Womöglich einer der Gründe, warum er künftig kürzertreten und mehr Home- Office- Zeit in seinem Haus auf Sylt verbringen möchte. Zudem will Feindt bald wieder Vorlesungen am Karlsruher Institut für Technologie halten und auch selbst mehr Zeit mit Lesen verbringen: „Sachbücher vor allem, aber ebenso Krimis und dicke Literaturschinken.“

Seine Forschung hingegen plant er auch in Zukunft weiter voranzutreiben. Zum einen, weil ihm Nachhaltigkeit sehr am Herzen liegt, zum anderen, weil er will, dass seine Kunden trotz gestörter Lieferketten gut durch die Krise kommen und resilienter werden, Verwerfungen in den Supply Chains zu meistern. „Ohne Digitalisierung geht das nicht. Wer bestehen will, tut gut daran, zu wissen, wie es um Rohstoff-, Produktions- und Containerkapazitäten bestellt ist, welche seiner Vorprodukte und Waren gerade wo auf den Weltmeeren unterwegs sind und wo welche Nachfrage besteht“, betont Feindt. Übersicht über das komplexe Geschehen bietet der Control Tower von Blue Yonder, in dem alle Daten übersichtlich aufbereitet zusammenfließen.

Um ihre Lieferketten robuster zu machen, setzen viele Unternehmen auf althergebrachte Lösungen wie Nearshoring oder höhere Lagerbestände. Das hilft, Lieferfähigkeit und Überleben eines Unternehmens zu sichern, geht aber zulasten des Klimas – weil im Zweifel mehr Waren produziert und gelagert werden als nötig. „Im Gespräch mit deutschen Interessenten stoßen wir häufig trotzdem auf eine grundlegende Skepsis, wenn wir unsere Produkte vorstellen“, berichtet Feindt. Viele wollten nur das anwenden, was sie auch selbst durchdringen, verstünden es aber nicht, angemessen analytisch und quantitativ zu denken. „Auftraggeber vergleichen gern im Nachhinein unsere Prognosen mit den realen Zahlen, um sich über die wenigen Ausreißer zu beklagen — die oft als statistische Fluktuationen unvermeidbar sind —, statt anzuerkennen, wie exakt unsere Vorhersagen im Mittel sind“, so Feindt.

Risikobereitschaft wird weiter wachsen

Die Prognosen von Blue Yonder bestehen nun einmal nicht, wie in der Branche üblich, aus einer einzelnen Zahl: „Wir können stattdessen sehr akkurat ganze Wahrscheinlichkeitsverteilungen vorhersagen.“ In anderen europäischen Ländern, vor allem in England, seien die Verantwortlichen in der Regel sehr viel offener als in Deutschland, in den Schwellenländern Südamerikas, Asiens und auch in Südafrika erst recht. „Dort startet man häufig von einem niedrigen Level, ist aber bereit, ganze Generationen älterer Entwicklungen einfach zu überspringen.“ Manchmal schienen ihm die Gesprächspartner aus diesen Ländern „geistig weiter zu sein als viele deutsche Händler“.

Momentan sitzt der Schock aufgrund der massiven Lieferkettenschwierigkeiten bei vielen Unternehmen noch immer tief und führt zu einem Umdenken. Aber dass in der Logistik der Paradigmenwechsel von Effizienz zu Resilienz von Dauer sein wird, glaubt Michael Feindt nicht. „Über die Jahre sind die Supply Chains so optimiert worden, dass die Gewinne möglichst hoch waren. Wenn deshalb alles aus China oder Russland bezogen wurde, dann war das eben so.“ Jetzt habe man zwar „auf den Deckel bekommen“ und versuche, sich breiter und resilienter aufzustellen. Am Ende werde es aber wie nach der Finanzkrise sein: „Der Mensch hat ein kurzes Gedächtnis. Um die Gewinne zu optimieren, wird man früher oder später wieder wie zuvor ins Risiko gehen.“

Der Neuro-Bayes-Algorithmus

Der Name „Neuro-Bayes“ ist ein Kompositum aus den Begriffen „neuronales Netzwerk“ und „Bayes’sche Statistik“. Bei neuronalen Netzwerken handelt es sich um mathematische Konstrukte, die der Architektur und Arbeitsweise des menschlichen Gehirns nachempfunden sind und im Zentrum fast aller Methoden von künstlicher Intelligenz stehen. Das Verfahren der Bayes’schen Statistik lässt bei der Datenanalyse unter anderem Rückschlüsse auf die zugrunde liegende Theorie aus einer Vielzahl von Messungen zu, zum Beispiel, ob es sich bei einem beobachteten Effekt um eine zufällige Schwankung oder ein statistisch relevantes Ereignis handelt.

Schlagworte: Digitalisierung, Automatisierung, Trends, Big Data

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