Herr Professor Krüger, kaum erlebt die Innenstadt nach Pandemie und Lockdowns eine Wiederbelebung, droht nun mit dem Ukrainekrieg ein Rückfall: Die Konsumenten sind verunsichert, Waren werden teurer, mit den Preisen steigt die Inflation. Wie beurteilen Sie die Überlebenschancen des Patienten Innenstadthandel?
Die Situation in den Innenstädten ist sehr heterogen. Zwar gibt es auch in den Citylagen größerer Städte ab 100.000 Einwohner, je nach Sortiment, Umsatzrückgänge von zehn bis 30 Prozent, die negativen Einfluss auf die Zahl der Betriebe und ihre Flächengrößen haben. Das trifft insbesondere Filialisten, die bislang das Bild prägten. Doch Großstädte mit einem vernünftigen Einzugsbereich werden mit deutlichen Umbaumaßnahmen und der Stärkung von Funktionen auch jenseits des Handels eine Zukunft haben. Für Klein- und Mittelstädte zwischen 10.000 und 70.000 Einwohnern ist die Situation weitaus schwieriger. Selbst Innenstädte, die bisher noch ein qualitativ differenziertes Angebot in den klassischen Sortimenten Textil, Schuhe und Schmuck haben, drohen sowohl weitere Flächen als auch an Niveau zu verlieren. Sinkt das Angebot auf Discountstufe, fragt sich der Mittelschichtskonsument: Was soll ich da noch?
In fast 70 Prozent der Kommunen geht der Anteil der Ladengeschäfte infolge der Pandemie bereits zurück. Der HDE rechnet mit 16.000 Geschäften, denen 2022 das Aus droht …
Umso dringender geht es nun darum, der Innenstadt neue Funktionen zu geben, sie frisch zu beatmen. Denn der Funktionsverlust des Handels ist in weiten Teilen unumkehrbar. Das größte Potenzial für eine Neubelebung hat die Gastronomie. Denn Menschen suchen soziale Erlebnisse und Begegnungsqualität. Also Dinge, die ein Zentrum traditionell ausmachten, die wir aber gar nicht mehr kennen aus der Innenstadt, weil wir dort nur optimierte Einzelvertriebsformate antreffen, die überall gleich sind. Die Standorte und Flächen der Filialisten verringern sich jetzt erheblich, sodass wir von Masse und Monotonie wegkommen und zu neuen Qualitäten gelangen können.
Neben den reinen Konsumenten verschwinden auch immer mehr Angestellte aus den Innenstädten, da sie zunehmend im Homeoffice oder in Co-Working-Spaces nahe ihrer Wohnquartiere arbeiten. Liegt darin auch eine Chance, wenn sich Funktionen wieder stärker über das gesamte Stadtgebiet verteilen?
Für Stadtteilzentren größerer Städte ist das eine positive Entwicklung, womöglich auch für die abgesunkenen Klein- und Mittelstädte im Umland großer Agglomerationen. Die bisherige Konzentration von Einzelhandel- und Büroflächen in den Citylagen ist im Sinne einer nachhaltigen Stadtentwicklung keine gesunde und auf Dauer auch keine tragfähige Struktur. Noch haben wir etwas Mühe, das Potenzial der Stadtteilzentren zu wecken. Aber mit der Zeit und Unterstützung der Kommunen wird das kommen. Denn es gibt in diesen Orten auch zukünftig viele im Homeoffice Arbeitende, die mittags gern rausgehen und Kleinigkeiten besorgen – auch wenn es nicht gar so viele sind wie in den klassischen Citylagen. Gleichwohl wird die Innenstadt, wenn sie einigermaßen gut aufgestellt ist, weiterhin der bevorzugte Ort sein, an dem Menschen sich aufhalten und begegnen und wo sich Business, Konsum und Restauration verbinden.
Eröffnen sich durch die beschriebenen Verschiebungen neue Chancen für den inhabergeführten Fachhandel?
Wenn er es schafft, Onlinelieferfähigkeit mit kundenorientierter und qualifizierter Beratung zu verknüpfen, sehe ich gerade in Hinblick auf die Zentren jenseits der City neue Chancen. Letztlich hängt das von der örtlichen Kaufkraft ab, also ob es Kunden gibt, die bereit und in der Lage sind, für qualitativ hochwertige Produkte und qualifizierte Beratung mehr Geld zu bezahlen. Generell wird das Thema Qualität wieder eine größere Rolle im Handel spielen. Das war ein wenig in Vergessenheit geraten, weil bei vielen Filialisten der Abverkauf im Fokus stand und am Personal gespart wurde.
Am Ende bleibt der Handel ein people's business …
Besinnt sich der Handel wieder auf seine alten Stärken, birgt das viel Potenzial. Aber wahrscheinlich brauchen wir eine neue Generation, die einerseits mit Themen wie IT und Internet klarkommt und andererseits Spaß am persönlichen Kontakt, am Verkaufen und an der Beratung hat. Wenn der klassische Handel es schafft, das Gateway zum Onlinehandel zu werden, und dies mit guter persönlicher Kundenbetreuung verbindet, kann das funktionieren. Nicht jeder kleine Laden muss dazu einen eigenen Webshop aufbauen, Plattformen wie Otto.de sind eine gute Alternative. Doch am Ende geht es, zumindest im höherklassigen Handel, tatsächlich um den persönlichen Kundenkontakt. Und es braucht eine Stadtgröße von mindestens 30.000 Einwohnern, damit der qualifizierte Fachhandel, zumindest in einzelnen Segmenten, überlebensfähig ist. Aber das müssen wir erst wieder neu schaffen. Momentan wagt kaum jemand eine Existenzgründung in diesem Bereich. Das müssen wir erst hochpäppeln, indem wir Strukturen für Gründer und Zentren für ihre Beratung und Qualifizierung schaffen.
Traditionell war es der Handel, der mit seiner Sogwirkung andere Innenstadtfunktionen befeuerte und zudem für Kopplungsmöglichkeiten zwischen den Funktionen sorgte. Sind Wohnen, Gastronomie, Kulturangebote und städtische Dienste in der Lage, Aufenthaltsqualität und Urbanität in ähnlicher Weise zu sichern?
Die Innenstadt kann durch mehr Funktionsvielfalt wieder zum Aufenthalt anregen und dadurch eine Stärkung erfahren. Das steigert nicht unbedingt die Frequenzen im Einzelhandel; da wird es beim genannten Minus von zehn bis 30 Prozent bleiben. Daher wird es einige Verluste bei Händlern geben, deren kritische Grenze damit unterschritten ist. Aber mit einer höheren Funktionsvielfalt kommen neue Möglichkeiten hinzu, die Innenstadt als öffentlichen Raum – und mit Abstrichen auch als Handelsstandort – zumindest zu stabilisieren. Zu Umnutzungen von Ladenflächen in Richtung Dienstleistung und Handwerk gibt es daher keine Alternative, denn in einem Ladengeschäft in der Innenstadt möchte niemand wohnen. Deshalb sollten wir die Transformation von Handelsflächen unterstützen. Wichtig ist, dass es konzentriert und wirtschaftlich erfolgt, beispielsweise als Manufakturenhaus, vielleicht kombiniert mit Concept Stores, die regionale Waren anbieten. So lassen sich Randbereiche der Innenstadt umnutzen oder man schafft vielleicht sogar einen neuen Anziehungspol im Zentrum. Das ist alles wunderbar, kehrt die Entwicklung der Innenstadt aber nicht um, denn solche Angebote ziehen keine Masse.
Was braucht es stattdessen?
Die Kombination von innovativen Einzelhandels- und Gastronomiekonzepten, also weit mehr als die Cappuccinomaschine im Laden. Anders als im Handel, zu dem es in den Städten viel Erfahrungswissen, eine Rechtsprechung und für den es zudem etablierte Formate gibt, steckt bei der Gastronomie all das noch in den Kinderschuhen. Auch die Branche selbst ist in weiten Teilen unterprofessionalisiert. Dahingehend ist auch seitens der Kommunen und der Immobilienwirtschaft noch viel konzeptionelle Entwicklungsarbeit vonnöten. Zudem muss man die Ansiedlung durch Clusterbildung räumlich vernünftig organisieren. Es geht vor allem darum, dass die Gastronomie, in Verbindung mit Handel und kulturellen Nutzungen, Leben in den öffentlichen Raum bringt. Da ist auch das Stadtmarketing gefragt, das Dialog und Kooperationen zwischen den öffentlichen, kulturellen und zivilgesellschaftlichen Akteuren und denen aus Gastronomie und Handel organisieren muss.
Und wie steht es mit dem Wohnen? Das würde zwar vornehmlich die Nachfrage nach Gütern des täglichen Bedarfs anregen, aber auch für mehr Leben in der Innenstadt nach Ladenschluss sorgen …
Innenstadtnahes Wohnen ist grundsätzlich eine gute Sache, aber eher nicht in den Haupteinkaufsstraßen. Menschen, die citynah wohnen, sind größtenteils innenstadtaffin und werden am Abend ab und an einen Wein trinken gehen, also für eine gewisse Belebung sorgen. Aber das wird die Innenstadt nicht retten. Trotzdem bin ich sofort dabei, wenn man versucht, das innenstadtnahe Wohnen zu stärken. Das ist aber nicht die Hauptbewegung, die wir jetzt brauchen. Jetzt geht es primär um die Belebung mit Gastro, Kultur, zivilgesellschaftlichen Angeboten und einer wie auch immer gearteten Erneuerung des Handels.
Seit Langem ist mit dem Thema befassten Experten klar, dass es für eine funktionsgemischte Innenstadt rechtlicher Neujustierungen im Bau- und Planungsrecht sowie einer Überarbeitung von Richtlinien wie der TA Lärm bedarf. Woran hakt es?
Das ist im Kern ein juristisches Thema, das ich nicht abschließend bewerten kann. Für mich steht dahinter aber die Frage, ob es Aufgabe stadtplanerischen Bemühens sein muss, alle erdenklichen potenziellen Konflikte zu vermeiden. Als das heute geltende Recht in den 1960er-Jahren eingeführt wurde, ging es primär um die Idee der Funktionstrennung. Hinzu trat seit den 1970er-Jahren Immissionsschutz. Seitdem bekommen wir keine Bewegung mehr in das Thema. Daher bräuchte es dringend eine juristische Klärung, dass es auch in Bezug auf Nachtzeiten Wohngebiete mit verschiedenen Empfindlichkeitsgraden geben darf. Dann könnte jeder selbst entscheiden, ob er gewisse Beeinträchtigungen hinnehmen möchte, um urban zu wohnen. Im Bestand wird das geduldet. Doch wenn Sie etwas Neues planen, dürfen Sie das nicht. Wir nehmen also bestehende problematische Situationen stillschweigend hin, erzeugen aber ständig Funktionsteilung und Aufgliederung bei der Neuplanung. Das ist eine völlig absurde Entwicklung, mit der wir unsere Städte kaputt machen.
Der Handelsverband Deutschland wirbt für ein Sonderprogramm Innenstadtentwicklung mit jährlich mindestens 500 Millionen Euro für eine Laufzeit von fünf Jahren. Wofür würden Sie dieses Geld einsetzen?
Jedenfalls nicht nur in investive Baumaßnahmen, um die Einkaufsstraße zu verschönern oder den Marktplatz neu zu gestalten. Da werden Millionenbeträge in Gestaltungsprojekten versenkt, die jedoch das Problem nicht lösen. Letztlich gilt es, einen komplexen Umstrukturierungsprozess einzuleiten, der nicht von allein läuft, nicht über den Markt zu steuern ist und mit dem auch die Kommunen überfordert sind. Das ist eine sowohl gesellschaftliche und ökonomische wie auch kulturelle und soziale Aufgabe, die neuer Steuerungsformen bedarf. Dazu braucht es ein professionelles Transformationsmanagement mit Experten, die in der Lage sind, mit allen Akteuren auf Augenhöhe zu sprechen, also mit Verwaltung, Einzelhandel und Gastronomie, Kulturschaffenden und Zivilgesellschaft sowie mit Immobilieneigentümern. Es müssen interdisziplinäre Teams beauftragt werden, die das als Managementaufgabe angehen und aktiv begleiten. Das kostet zwar Geld, ist aber allemal billiger und zielführender, als nur in Bricks und Mortar zu investieren.
Kommentare
Schade nur, dass der Artikel mit keinem Wort darauf eingeht, dass viele Städte selbst entscheidend dazu beitragen, die eigenen Zentren zu schwächen und dem Handel dort die Perspektive zu nehmen. Wer immer mehr Handel auf der grünen Wiese oder an nicht integrierten Stellen zulässt, muss sich doch nicht wundern, wenn die Innenstädte und Stadtteilzentren nicht mehr funktionieren. Seitdem die Discounter, Verbraucher-, Super-, Bau-, Garten- und Möbelmärkte überall und nur nicht in den Zentren angesiedelt werden - am liebsten ja weit vor den Toren der eigentlichen Stadt - fehlen entscheidende Frequenzbringer in den Zentren. Jede dieser Ansiedlungen darf dann auch noch absurd große Flächen der sog. zentrenrelevanten Sortimente anbieten und hinterher behaupten dann die Damen und Herren der Lokalpolitik, der lokale Einzelhändler sei eben nur zu dumm, sein Geschäft zu führen. Fast in jeder Stadt sind mittlerweile die Handelsflächen außerhalb der Zentren größer als in diesen. Das ist weder sozial noch ökologisch sinn- oder verantwortungsvoll.
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Der Detailhandel hatte jahrhundertelang unter anderem die Funktion eines Grundversorgers: Dort kaufte man die Güter des täglichen Bedarfs. Diese Funktion wandert in den Onlinehandel ab, da dieser hinsichtlich Sortimentsbreite und -tiefe mehr bieten kann und außerdem wesentlich bequemer zu handhaben ist (Such-, Filter-, Sortierfunktionen, Kauf von zuhause aus, Rücksendungen, usw.).
Für den stationären Detailhandel bedeutet dies, dass neue Funktionen in den Vordergrund rücken müssten, die der Onlinehandel nicht bieten kann. Zum Beispiel Produktdemonstrationen / Produkterlebnisse, spannende Innovationen, etc.
Es kann nicht die Lösung sein, die City zu einer reinen Gastro-Zone umzugestalten. Die Leute wollen in ihrer Freizeit nicht nur fressen und saufen, sondern auch shoppen. Es gilt nun, das Shopping in der City neu zu gestalten. Dazu wird Kreativität benötigt.
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Wenn der Einzelhandel sich weiterhin nur als Versorger sieht, hat er gegenüber dem Online-Handel mit seiner Sortimentsbreite, -tiefe und -präsenz verloren! Der Verbraucher hat in vielen Geschäft die Wahrnehmung, dass das Personal nur mit dem Aufräumen und Auffüllen von Ware oder miteinander beschäftigt ist. Eine echte, emotionale Hingebung für persönliche Beratung, findet nur noch in ganz wenigen Fällen wirklich statt. Da reicht es nicht, den Kunden stereotypenhaft anzusprechen, dass er bei Fragen, sich an den Verkäufer wenden kann. Einkaufserlebnis hat viel mit Emotionen zu tun, deshalb müssen Mitarbeiter wieder zu Verkäufern geschult werden, die beim Kunden durch die Verbindung von Produktwissen, -präsentation und die persönliche, individuelle und emotionale Beratung zu einem echten Erlebnis werden lassen.
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