Mit Standorten in London, New York City, Hongkong and São Paulo zählen die Trendforscher von WGSN zu den ersten Adressen für internationale Marken, wenn es um datengestützte Prognosen künftiger Verbraucherbedürfnisse geht. Mit ihrem globalen Team ist Carla Buzasi stets nah dran an den neusten Entwicklungen und sorgt dafür, dass ihre Kunden strategisch immer auf der Höhe der Zeit sind. Phillip Raub hat als Mitgründer des Home-Electronics-Anbieters B8ta und dessen Fashionableger Forum das Konzept Retail-as-a-Service (RaaS) entwickelt, das mittlerweile auch in Deutschland zahlreiche Nachahmer gefunden hat. Mit Model No. brachte der US-amerikanische Tech-Experte jüngst ein weiteres Unternehmen an den Start, mit dem er die Möbelbranche auf Nachhaltigkeitskurs bringen möchte.
Carla, die Pandemie hat die Normalität neu definiert. Wie haben sich Denkweisen und Verhalten der Konsumenten in den vergangenen zwei Jahren verändert?
Carla Buzasi: Die Pandemie hat nahezu jeden Aspekt des Lebens der Verbraucher verändert: Menschen arbeiten von zu Hause aus, viele wechseln ihren Job oder ziehen aufs Land. Zudem hat sich die Erwartungshaltung der Bürger geändert. Während Lösungen und Orientierung früher die Aufgabe von Politikern und Wirtschaftsführern waren, gelten nun wissenschaftliche Experten und medizinisches Fachpersonal als wichtigste Instanzen. Doch bei aller Nervosität, die aus der Dynamik wechselnder Virusvarianten und Schutzmaßnahmen erwächst, werden es perspektivisch dieselben Dinge wie zuvor sein, die Menschen glücklich machen: mit anderen Menschen Freude teilen, gemeinsam aktiv sein, reisen. Insofern hat sich sehr, sehr viel geändert – und zugleich überhaupt nichts.
Phillip, passt diese Analyse zu deinen persönlichen Eindrücken als Unternehmer?
Philip Raub: Absolut. Keine Nachkriegsgeneration der westlichen Welt hat wohl ein ähnliches gravierendes Ereignis erlebt wie diese weltweite Pandemie. Für ein technologiebasiertes Start-up wie uns gehört es jedoch zum Alltagsgeschäft, immer genau zu beobachten, wohin sich im Umbruch befindliche Dinge entwickeln. Das hat uns in der Coronazeit sehr geholfen. Gaben die Menschen zu Beginn viel Geld für ihre Wohnungsausstattung aus, gehen sie nun wieder ins Büro, jedoch nur zeitweise. Entsprechend mussten wir bei Model No. unser Möbelangebot anpassen, aber zuvor den Anforderungen an neue, hybride Arbeitsplätze auf den Grund gehen. In unserem Fashiongeschäft Forum hingegen haben wir ein Studio für Live-Shopping-Events eingerichtet und es damit geschafft, dass die Kunden mit uns in Interaktion bleiben. Erfolgsentscheidend ist, die Wünsche und Denkweise der Verbraucher zu kennen und mittels smarter Technologie rasch auf Verschiebungen zu reagieren.
Carla Buzasi: Es geht darum, bekannte Formate wie Produktdemonstrationen neu zu erfinden – und zwar auf eine coole, datengesteuerte und erfahrungsorientierte Weise. Auf der anderen Seite hat sich im Onlinehandel ein stark auf den praktischen Nutzen ausgerichtetes Konsumverhalten etabliert, das mittlerweile auch ältere Generationen übernommen haben. Da sie nun daran gewöhnt sind und es so einfach ist, werden sehr viele Menschen ihre Einkäufe des täglichen Bedarfs künftig immer online erledigen. Weil das Online-Erlebnis immer besser wird, steigen wiederum die Erwartungen der Menschen, die in ein Geschäft gehen: Es muss sich besser anfühlen als der Kauf im Netz.
Wie werden die Erfahrungen im E- und Social Commerce die Erwartungen der Verbraucher an digitale Funktionen am physischen Point of Sale beeinflussen?
Carla Buzasi: Technologien, die das Markenerlebnis befeuern oder Pain Points wie beispielsweise den Bezahlprozess eliminieren, sind auf jeden Fall willkommen. Doch niemand braucht im Laden Computerbildschirme oder sonstige Technologie um der Technologie willen. Das muss alles unsichtbar hinter den Kulissen passieren, der Kunde will das weder mitbekommen noch verstehen. Für ihn zählt allein die positive analoge Erfahrung: die Beschaffenheit von Materialien spüren, Begegnungen mit realen Menschen, Momente gemeinsamen Erlebens.
Das heißt, in einer zunehmend anonymisierten und individualisierten Welt übernimmt der Handel die Aufgabe, über sinnstiftende Konsumangebote Gemeinschaften zu formen und an sich zu binden?
Phillip Raub: Erfolgsentscheidend ist, Orte zu schaffen, an denen Verbraucher Produkte mit allen Sinnen in Ruhe entdecken können und mit Gleichgesinnten ins Gespräch kommen. Nicht umsonst heißt unser Modegeschäft in Los Angeles „Forum“. Entsteht eine emotionale Bindung, werden die Kunden zu Evangelisten und sorgen im persönlichen Gespräch und mittels Social Media dafür, dass eine Marke bekannt und relevant wird. Voraussetzung ist jedoch, dass man authentisch ist. Menschen merken sofort, wenn etwas nicht echt ist.
Statt reinen Warenumschlagplätzen erwarten Konsumenten neben sinnstiftenden Marken zunehmend auch integrierte Einzelhandelsstandorte, an denen sie ihren Tag auf sinnvolle Weise verbringen können. Welche Funktionen muss der Handel bieten, um ein attraktiver Third Place zu sein?
Carla Buzasi: Vor der Pandemie schien nahezu jeder Ladenbetreiber zu denken, wenn er ein Café in seinen Laden packt, habe er Erlebniseinzelhandel geschaffen. Der Handel muss aber wesentlich experimentierfreudiger agieren. Viele Malls kämpfen aktuell mit Leerstand. Warum keine neuen Spielfelder erproben: Co-Working-Spaces, Fitnessstudios, Malkurse, Skate-Parks; Theater, Wellness – alles innerhalb eines Ensembles.
Phillip Raub: Co-Working-Spaces werden künftig ebenfalls verstärkt in den Vorstädten anzutreffen sein, also dort, wo die zahllosen Pendler wohnen. Mitarbeiter wollen nicht mehr eine Stunde oder länger zu ihrem Arbeitsplatz unterwegs sein oder den ganzen Tag zu Hause sitzen. Lieber fahren sie 15 Minuten mit dem Rad. Unternehmen suchen bereits nach Orten, an denen sie regelmäßige Off-Sites für ihre remote arbeitenden Mitarbeiter veranstalten. Sie geben nicht mehr Unmengen für Büroflächen aus, sondern kaufen Rückzugsorte auf dem Land, wo sich ihre Teams treffen. Wir werden bald viele kreative Wege sehen, die dazu dienen, Menschen auf ansprechendere Weise zusammenzubringen. Auch den Konsumenten wird mehr und mehr bewusst, dass ihnen mehr Optionen offenstehen als je zuvor.
Wie muss der Handel darauf reagieren?
Phillip Raub: Nach den vergangenen zwei Jahren mit all den Restriktionen empfinden es viele von uns als befreiend, die Zügel wieder selbst in die Hand zu nehmen. Unternehmen müssen sich dieser Machtverschiebung bewusst sein. Der Kunde hat immer die Wahl. Also sollte ich nicht versuchen, ihn zu ändern, damit ich mich selbst nicht verändern muss. Geht es um praktische Dinge wie Warenverfügbarkeit, Zahlungsabwicklung oder Rücknahmen, muss alles so bequem und so einfach wie irgendwie möglich ablaufen. Genuss und überraschende Erfahrungen zu schenken, gelingt auf diesem Wege jedoch nicht. Dazu muss ich einen Ort schaffen, der im Kunden den Wunsch weckt, wiederzukommen, weil er sich dort wohlfühlt, auf Gleichgesinnte trifft und dieser Ort seinem postpandemischen Bedürfnis nach aktivem Handeln ein Feld bietet.
Carla Buzasi: Kopfschmerzen bereitet vielen Unternehmen, dass auch nach der Pandemie viele Menschen remote arbeiten werden. Sie werden also seltener pendeln oder ganz aus den großen Städten wegziehen. Geld, Macht und Kaufkraft, die jetzt in den großen Agglomerationen konzentriert sind, werden sich neu verteilen. Für den Handel heißt das, er muss künftig außerhalb der großen Städte präsent sein und dazu passende Verkaufsformate entwickeln. Und er muss Wege finden, mit seinen Kunden zu kommunizieren, auch wenn sie nicht mehr jeden Tag am Schaufenster vorbeilaufen. Deshalb kann ich den CEOs der großen europäischen Einzelhändler nur raten: Nehmt euch ein Beispiel an euren amerikanischen Kollegen und denkt weiter nach außen! Formate, die abgelegene Destinationen in schöner Umgebung, also Reise- und Naturerlebnis, mit einer besonderen Einkaufserfahrung verbinden, werden ohne Frage einen Boom erleben.
Lassen Sie uns über Nachhaltigkeit sprechen: Ein entsprechendes Verhalten erscheint vor allem als Anliegen einer überschaubaren Gruppe gut ausgebildeter und wohlhabender Konsumenten. Ist Nachhaltigkeit ein Elitethema?
Carla Buzasi: Auf der Ebene der individuellen Konsumentenentscheidung übertrumpfen finanzielle Überlegungen im Zweifel den Gedanken an bestimmte Ideale. Gleichwohl sehen wir, wie der Druck auf die Regierenden steigt und sie immer mehr Regeln und Rechtsvorschriften erlassen. Doch auch die Konsumgüterindustrie muss das Thema ernst nehmen und zu Kompromissen auch wirtschaftlicher Art bereit sein. Ich lebe in einem Land, in dem die Preise gerade explodieren und die Menschen immer kostensensibler werden. Bürdet man die Lasten nachhaltiger Produktion allein ihrem Geldbeutel auf, werden sie ihr Konsumverhalten nicht ändern.
Phillip, mit Model No. wilst du Nachhaltigkeit in die Möbelbranche tragen. Wie lautet dein Plan?
Phillip Raub: Die Idee ist, den Prozess der Möbelherstellung zugleich zu beschleunigen und ökologischer zu gestalten. Traditionell war es so, dass hohe Qualität nur im Zuge eines langsamen und mühsamen Prozesses zu erzielen war. Wer sein Möbel schnell haben wollte, musste bei Materialität und Verarbeitungsqualität Einbußen hinnehmen. Wir produzieren digital mittels 3D-Druck und wollten sehen, ob es gelingen kann, auf Basis von landwirtschaftlichen Abfällen und der ressourcenschonenden Feinsteuerung der Produktion Produkte von bleibender Qualität schnell und nachhaltig zu produzieren, also vor allem ohne erdölbasierte Kunststoffe. Letztlich ist es jedoch weniger entscheidend, wie man produziert, sondern wo. Um den Carbon Footprint der Produkte niedrig zu halten, ist es unerlässlich, nah am Verbraucher zu sein, sodass lange Transportwege entfallen. Deshalb planen wir dezentrale Mikrofabriken, in denen die Möbel on demand nach individuellem Kundenwunsch produziert werden, was wiederum die Retourenrate minimiert. Es braucht Gesetzgebung, um Nachhaltigkeit voranzutreiben. Aber vor allem braucht es innovative Unternehmen, die eine Mission haben und mit ihren Kunden eine Community bilden.
Phillip ist überzeugt, dass Unternehmen, die wirklich missionsorientiert sind, sich gegenseitig helfen sollten. Stimmst du ihm zu, Carla?
Carla Buzasi: Wir reden viel über Open- Source-Sustainability. Ich denke, Nachhaltigkeit ist ein Bereich, in dem Unternehmen ihre besten Ideen nicht für sich behalten, sondern ihre Innovationen teilen sollten. Wenn wir unseren Planeten erhalten wollen, muss dieses Ziel mehr Gewicht haben als mögliche Wettbewerbsvorteile. Es ist gut, wenn Unternehmen danach streben, die besten zu sein, aber dann sollten sie den Rest der Branche partizipieren lassen. Wenn es beispielsweise um Materialinnovationen geht, braucht es häufig eine kritische Masse, um sie erschwinglich zu machen.
Phillip Raub: Als die Schuhfirma Allbirds mitbekam, dass Amazon einen Wanderschuh kreiert hat, der einem ihrer eigenen Modelle ähnlich sieht, hat das Management technologische Unterstützung angeboten, damit auch Amazon für seinen Schuh Recyclingmaterial verwenden kann. Wissen zu teilen, macht geistiges Eigentum und Geschäftsgeheimnisse nicht obsolet. Bin ich als Unternehmen aber immer zwei oder drei Schritte voraus, kann ich das bereits Erreichte freimütig teilen.
Lassen Sie uns zum Abschluss über das zuletzt sehr gehypte Metaverse sprechen. Welchen Platz werden künftig Marken und Händler in dieser digitalen Weltsimulation einnehmen?
Carla Buzasi: Das ist zurzeit die häufigste Frage, die an uns gestellt wird. Es scheint, als bliebe dem Metaverse gar keine Zeit, sich zu entwickeln, weil die ganze Welt bereits die Frage antreibt, was sie damit anfangen soll. Momentan befindet sich das Metaverse im Experimentierstadium und hat längst noch keine kritische Masse erreicht. Doch schon in dieser Frühphase zeichnen sich schwerwiegende Probleme ab, nicht zuletzt der Mangel polizeilicher Kontrolle: Unerwünschte Annäherungen bis hin zum sexuellen Missbrauch, fehlende Überprüfung von Altersbeschränkungen, betrügerische Geschäftsmodelle – ein ziemlicher Wildwuchs. Grundsätzlich spricht jedoch nichts dagegen, dass sich Menschen aus aller Welt über sämtliche Zeitzonen hinweg zu Communities vernetzen. Noch aber hat das notwendige Equipment, vor allem die weiterhin sehr teuren Datenbrillen, keine kritische Masse erreicht. Das Metaverse existiert in verschiedenen Formen seit einiger Zeit. Das ist nichts Brandneues, aber der verstärkte Fokus darauf ist sicherlich eine Überlegung und Erkundung wert.
Phillip Raub: Mit der zunehmenden Regulierung des Internets wird es auch im Metaverse Regeln geben, an die sich Content-Provider und Anbieter von Kryptowährungen halten müssen. Zudem wird es viele Verlierer geben, die sich mit ihren Angeboten nicht durchsetzen. Zugleich spüre ich eine große Nachdenklichkeit bei Menschen, die wirklich etwas Neues und Großartiges erschaffen wollen. Aber noch scheint niemand eine klar definierte Strategie zu haben. Das Gros der Unternehmen ist daher gut beraten, erst einmal abzuwarten. Die Nikes dieser Welt, Firmen also, die junge Zielgruppen haben, tun gut daran, Dinge auszuprobieren. Obwohl selbst technologiegetrieben, werde ich als Familienvater jedoch sehr darauf achten, dass meine Kinder ihre Primärerfahrungen in der realen Welt machen. Technologie kann vieles verbessern, aber für den Handel, ja für die ganze Gesellschaft liegt der Schlüssel im verantwortungsvollen Umgang mit den technologischen Möglichkeiten.
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