Seit unserem letzten großen Branchentreffen im Rahmen des World Retail Congress (WRC) sind mehr als zwei Jahre vergangen. Doch jetzt konnte der WRC endlich wieder tagen. Trotz der nach wie vor geltenden Corona-Einschränkungen und den damit verbundenen Reiseauflagen trafen sich im September die Größen des internationalen Einzelhandels zu ihrem jährlichen Austausch in London. Dass sich die Veranstaltung wie ein Weltereignis anfühlte, hatte sicher auch mit dem Umstand zu tun, dass es für die Branche tatsächlich die erste Gelegenheit war, sich mit den enormen, von der Pandemie ausgelösten und verstärkten Veränderungen zu beschäftigen.
Im Lauf der Konferenz wurde schnell deutlich, dass die Unternehmen sich derzeit stark auf die Konsequenzen des rasant wachsenden Onlinegeschäfts und das dadurch veränderte Kundenverhalten konzentrieren, obwohl die überraschenden, aber eigentlich ungleich dramatischeren Fragestellungen die Folgen der Pandemie selbst sind.
So hieß es im Jahr 2020 zu Beginn der weltweiten Krise, dass die globale Wirtschaft mit hohen Arbeitslosenzahlen rechnen müsse. Gegenwärtig haben jedoch nicht allein die Handelsunternehmen, sondern auch sehr viele andere Wirtschaftszweige große Probleme, freie Stellen zu besetzen. Hinzu kommt, insbesondere in den westlichen Ländern, eine steigende Inflation, ausgelöst von den Staaten selbst, die das System mithilfe von Geldspritzen zu stabilisieren versuchen.
Doch die größte und besorgniserregendste Herausforderung für den Handel sind derzeit die Lieferketten. Auf nahezu jeder Kongressveranstaltung ging es irgendwann darum, und auch bei vielen Unterhaltungen, die ich in der letzten Zeit geführt habe, kamen wir regelmäßig auf dieses komplexe Thema zu sprechen. Konsens war stets, dass mittlerweile sehr viele Ausfälle zu verzeichnen sind und man mit Fug und Recht sagen kann, dass wir es mit einer ernst zu nehmenden Krise zu tun haben.
Durch Corona kam es in den Unternehmen auf der ganzen Welt zu Produktionsausfällen. Der Mangel an Frachtschiffen und Containern für den globalen Warentransport hat die daraus resultierenden Engpässe bei Zwischenprodukten und Waren weiter verschärft. In den Zielländern fehlen wiederum Lkw-Fahrer, die nötig wären, um die Waren und Lebensmittel dorthin zu transportieren, wo Einzelhändler wie auch Kunden auf sie warten – in die Warenlager der Handelsunternehmen, die Geschäfte und die Onlineverteilzentren. In Australien, so war auf dem WRC am Rande zu hören, wurde der Postzustelldienst kürzlich wegen Überlastung für drei Tage eingestellt.
Deshalb wächst die Angst vor einem neuerlich enttäuschenden Weihnachtsgeschäft für die Branche. Denn auch wenn die Kunden nur allzu bereit sind, Geld auszugeben – sie können nichts kaufen, wenn es nichts gibt. Um das zu verhindern, müssen Händler rund um den Globus jetzt schnell kreativ werden. Es gibt Lösungen, die allerdings ziemlich teuer sind. So will der britische Warenhauskonzern John Lewis eigens Frachtschiffe für den Transport der georderten Waren mieten, um sein Weihnachtsgeschäft abzusichern.
Die Lieferkettenkrise als eine unerwartete Folge der Pandemie setzt die gesamte Branche unter Druck und geht zweifellos mit hohen Kosten einher. Für den Handel ist jetzt der Punkt gekommen, jeden Teil der Lieferkette gründlich zu überprüfen. Und spätestens jetzt ist auch für Produzenten die Zeit gekommen, ihre Prozesse so umzustrukturieren, dass sie ausschließlich Waren herstellen, die bereits bestellt oder gekauft wurden. Gleichzeitig sollte es darum gehen, mehr Fertigung vor Ort zu ermöglichen, also Produktionsstandorte wieder zurück in die Absatzmärkte zu holen.
Eine Lieferkettenrevolution ist möglicherweise die letzte große Herausforderung des Handels auf dem Weg in eine neue Ära. Auch das ist, wenn man so will, eine Folge der Pandemie.
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