Aus dem Elfenbeinturm

Bleibt Nachhaltigkeit ein ewiger Traum?

Der Handel arbeitet intensiv daran, nachhaltiger zu werden. Aber das schlägt sich weltweit kaum in geringeren Umweltbelastungen nieder. Wird das Potenzial überschätzt? Oder braucht es noch andere Hebel, um es zu realisieren?

Von Professor Stefan Schaltegger 25.10.2022

© Felix Amsel

Auf dem richtigen Weg: Der Handel reduziert seinen Energieverbrauch, versucht, Verpackungen und Verschwendung zu vermeiden, und allen voran wächst das Angebot von nachhaltigen Produkten stetig.

Fast jedes der größten Unternehmen der Welt veröffentlicht einen Nachhaltigkeitsbericht, verfügt über eine Nachhaltigkeitsabteilung und verfolgt ein stetig wachsendes Set an Nachhaltigkeitsmaßnahmen. Dies gilt auch für die größten deutschen Unternehmen. Das ist die erfreuliche Seite. Demgegenüber verschlechtert sich der Umweltzustand der Erde kontinuierlich. So war der Earth-Overshoot Day in diesem Jahr am 28. Juli, während er im Jahr 2000 noch im Oktober und im Jahr 1995 noch im Dezember lag. Der Earth-Over­shoot Day markiert jährlich den Tag, an dem die Weltbevölkerung alle natürlichen Ressourcen verbraucht hat, die die Erde in einem Jahr zur Verfügung stellen kann. Das ist die unerfreuliche Seite.

Die laufende Verschlechterung des ökologischen Gesundheitszustands der Erde trotz eines gestiegenen Bewusstseins für die Probleme in der Bevölkerung und zunehmender Bemühungen von Unternehmen wirft Fragen auf: Bleibt Nachhaltigkeit ein Traum? Wie können Angebot und Nachfrage nachhaltiger werden? Und welche Rolle kommt dem Einzelhandel als Verbindungsglied zwischen Produktion und Konsum zu?

Wie so häufig bei komplexen Sachverhalten lautet die Antwort: „Es kommt darauf an.“ Technisch, organisatorisch und finanziell ist eine substanziell nachhaltigere Welt möglich; darüber sind sich Nachhaltigkeitsexperten einig. Es ist also „nur“ eine Frage des Willens und des entsprechenden Handelns. Ob die Menschen genügend wandelfähig sind für die notwendige Transformation, bleibt das größte Realexperiment der Menschheitsgeschichte mit unsicherem Ausgang. In diesem Überlebensexperiment und dem Zusammenspiel zwischen Wandel von Angebot und Nachfrage spielt der Einzelhandel eine Schlüsselrolle. Dem Grundprinzip folgend, dass der Einzelhandel einkauft, verkauft und hierzu Infrastruktur benötigt, können folgende grundsätzliche Handlungsfelder unterschieden werden: nachhaltige Angebote unter Berücksichtigung des Konsumverhaltens und hieraus abgeleiteter Einkauf, Betrieb und Infrastruktur.

Das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage nachhaltiger Produkte ist ein Henne-Ei-Phänomen. Wird ein nachhaltiges Produkt nicht angeboten, kann es nicht nachgefragt werden; wird es nicht nachgefragt, bleibt es im Regal und wird nicht mehr angeboten. Wie lässt sich diese Pattsituation durchbrechen? Während es auf diese Frage keine einfache, generelle Antwort gibt, zeigt die Nachhaltigkeitsforschung doch spannende Ansätze auf. Es gilt, Nachfragehemmnisse für nachhaltige Produkte zu überwinden. Hierzu gehören mangelndes Wissen über Probleme und den Nachhaltigkeitsnutzen von Angeboten, das Vertrauen, dass die Produkte diese Probleme auch tatsächlich wirksam lösen, und oft höhere Preise. Hier setzt professionelles Nachhaltigkeitsmarketing an, das sich nicht mit Teillösungen begnügt und Kunden nicht vor Dilemmata stellt. Wer Kunden vor die Wahl zwischen Bio-Angeboten von fern versus konventionell produzierter Regionalware stellt, handelt kundenfeindlich. Keines der Angebote ist konsequent nachhaltig und kaum jemand will damit konfrontiert werden. Hier ist der Handel gefragt, echte Problemlösungen anzubieten, statt seine Kundschaft in die Zwickmühle zu setzen.

In jüngerer Zeit, bei hoher Inflation und einer zunehmenden Anzahl von sozialen Härtefällen, wird dem Preis wieder eine höhere Bedeutung beigemessen. Während es verständlich ist, dass die derzeitigen Preisunterschiede zwischen nachhaltigen und nicht nachhaltigen Produkten Kaufhemmnisse darstellen, müssen diese Differenzen nicht als gegeben hingenommen werden. Erstens sinkt ein Teil der Herstellungskosten nachhaltiger Produkte, wenn sie in höheren Stückzahlen produziert, gehandelt und gekauft werden. Zweitens wissen wir, dass Lebensmittelverschwendung unter anderem auch durch ungeeignete beziehungsweise zu große Einkaufs- und damit Verkaufsmengen beeinflusst wird. Und drittens beeinflusst die Wahl der eingekauften Produktgruppen ganz wesentlich die Gesamtkosten des Einkaufs für die Kunden.

So kann der Handel Kunden helfen, unabhängig von einzelnen Produktpreisen einen überzeugenden Einkauf bei gegebenem Budget zu erreichen. Vermehrte Möglichkeiten, dass Kunden die Einkaufsmengen genauer und kleinteiliger selbst wählen können, lassen sich in etlichen Produktbereichen mit Unverpacktangeboten verknüpfen. Damit wird nicht nur die Lebensmittelverschwendung adressiert, sondern auch Verpackungsmüll und Geld gespart. Eine Reduktion des durchschnittlichen Fleischkonsums wäre nicht nur gesundheitlich, ökologisch und sozial vorteilhaft, sondern könnte auch das Budget entlasten, womit Freiraum für eine hochwertigere Produktwahl geschaffen wird. All diese Aspekte – eine verständliche Kommunikation des Nutzens nachhaltiger Angebote für Käufer und die Welt, die Umsatzmenge, die Möglichkeit für Kunden, ihre Einkaufsmengen feinjustiert zu wählen, und die Attraktivität bestimmter Angebotsgruppen – sind Gestaltungsvariablen des Einzelhandels.

Die Nachhaltigkeitswirkungen von Betrieb und Infrastruktur hängen oft eng zusammen. Die Entwicklungen der vergangenen Jahre führen inzwischen zu einem immer häufigeren Gleichklang von ökologischen und wirtschaftlichen Zielen. Zwar muss für Energiesparen und regenerative Energien investiert werden, die Investitionen können die Betriebs- und die Gesamtkosten über die Zeit jedoch wesentlich senken. Während der Einzelhandel in Mietverhältnissen oft nur das Gespräch mit Vermietern suchen kann, um Energieeffizienz durch Gebäudesanierung und die Nutzung regenerativer Energien anzuregen, können Gebäudeeigentümer mit inzwischen überschaubaren Investitionen Öl und Gas ersetzen und die Stromkosten auf einen Bruchteil senken.

Träume gehen manchmal in Erfüllung. Dazu kann der Einzelhandel mit attraktiven nachhaltigen Angeboten maßgeblich beitragen. Alle Ansatzpunkte zusammengenommen, ist festzustellen, dass der Handel über ein erhebliches Nachhaltigkeitspotenzial verfügt. Und vermehrt zeigt sich, dass, je länger er wartet, desto mehr nur ein noch deutlicherer Nachhaltigkeitsschritt vorwärts die wirtschaftliche Existenz sichern wird.

Schlagworte: Nachhaltigkeit, Handel

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