Frau Ministerin Geywitz, im März vergangenen Jahres haben Sie den Vorsitz des Beirats Innenstadt übernommen. Was ist die Aufgabe dieses Gremiums und welche konkreten Ergebnisse hat es bislang hervorgebracht?
Klara Geywitz: Die Attraktivität einer Innenstadt hängt von vielen Akteuren ab. Genau das spiegelt die Zusammensetzung dieses Beirats wider. So unterschiedlich die Einzelinteressen im Detail auch sein mögen, verfolgen alle Beteiligten doch ein gemeinsames Interesse: dass wir lebenswerte und vor allen Dingen belebte Innenstädte haben. Dabei stellen sich zwei entscheidende Herausforderungen. Zum einen die Veränderung der innerstädtischen Mobilität. Diese ist für die Frage der Aufenthaltsqualität enorm wichtig. Weil aber die Waren in die Läden kommen müssen, sind Aushandlungsprozesse zwischen den Akteuren notwendig, die nicht immer einfach sind. Ebenso entscheidend für die Aufenthaltsqualität ist, dass der Klimawandel auch die Innenstädte betrifft und wir sehr viel investieren müssen, damit die Citylagen für die Menschen trotz Hitze attraktiv bleiben.
Der Niedergang der Innenstädte ist ein altbekanntes Problem, das sich durch die Coronapandemie und aktuell durch die inflationsbedingte rückläufige Nachfrage weiter verstärkt hat. Können Sie feststellen, dass die Arbeit des 2020 gegründeten Beirats in den Städten und Kommunen bereits Wirkung zeigt?
Geywitz: Wichtig ist erst einmal die Problemanalyse. Eine entscheidende Frage ist zum Beispiel: Was erwarten die Bürger von einer attraktiven Innenstadt? Vor allem in Städten mit alternder Bevölkerung gewinnt das Thema Stadtmöblierung an Bedeutung, also zum Beispiel über genug Sitzbänke zum Verweilen zu verfügen. Auch der Zugang zu Trinkwasser durch Trinkbrunnen ist angesichts heißer Sommer wichtig, weil sich nicht jeder eigenes Wasser kaufen will oder kann. Parks, grüne Plätze und begrünte Fassaden werden Städte und Dörfer abkühlen. Dafür ist es notwendig, dass wir den städtebaulichen Umbau weiter fortführen. Als Bund unterstützen wir das finanziell und geben darüber hinaus den Innenstadt-Ratgeber heraus, mit Tipps zur Umsetzung, zu den rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen und mit Beispielen zum Nachmachen.
Herr von Preen, wie wird die krisenhafte Entwicklung der Branche die Funktion des Einzelhandels im komplexen System Innenstadt verändern? Kann und soll der Konsum eine ähnlich wichtige Rolle spielen wie zuvor?
Alexander von Preen: Eine sehr weitreichende Frage, aber ich kann sie sehr klar mit Ja beantworten. Wie Klara Geywitz bereits festgestellt hat, bin auch ich überzeugt, dass der Handel eine tragende Säule der Innenstädte bleibt. Natürlich in Kombination mit anderen Partnern wie beispielsweise der Gastronomie sowie Freizeit-, Kultur- und Bildungseinrichtungen. Auch die Zugänglichkeit über den ÖPNV spielt eine wichtige Rolle. Aber wenn wir unsere Kundinnen und Kunden befragen, bekommen wir immer wieder die Rückmeldung, dass weit über 60 Prozent der Meinung sind, dass einer der wesentlichsten Faktoren, in die Stadt zu kommen, die Einkaufserlebnisse sind. Wir müssen investieren, um innovativ zu sein und neue Inspirationen zu schaffen.
Zunächst einmal sind aber viele Kunden in den Onlinehandel gewandert. Man sieht es daran, dass vor allem viele namhafte Textilfilialisten aufgeben mussten. Muss der Handel womöglich nicht nur besser werden, sondern sich auch in einigen Sparten gesundschrumpfen?
von Preen: Ich bin ein großer Verfechter davon, alle Einkaufsmöglichkeiten und Vertriebswege gemeinschaftlich zu denken. Der Omnichannel-Handel ist einer der wichtigen Zukunftsfaktoren des Handels. Im Rahmen unseres Mittelstand-Digital Zentrums Handel und weiterer Digitalisierungsinitiativen stellen wir fest, dass viele Händler proaktiv auf uns zugehen und Unterstützung annehmen, wenn es darum geht, ihre Geschäfte auch über das Internet abzuwickeln. Unsere Kundinnen und Kunden nutzen intensiv neue Einkaufsmöglichkeiten wie Click & Collect. Zudem teile ich, was Klara Geywitz gesagt hat: Die grüne Stadt, die blaue Stadt und kreative Handelsformate müssen kombiniert werden, um die Menschen in die Städte zu holen. Der Wunsch nach sozialem Austausch ist nach der Coronapandemie so groß wie lange nicht. Daran müssen wir anknüpfen.
Frau Srock.Stanley, ist die bisherige funktionale Teilung von Städten in die separierten Bereiche Arbeiten, Wohnen, Einkaufen und Produktion grundsätzlich zu hinterfragen?
Nicole Srock.Stanley: Im Zuge der wachsenden Mobilität ersann man in den 1950er-Jahren die autogerechte Stadt und teilte sie in die genannten Funktionsbereiche auf. Jetzt sieht man überall auf der Welt, dass uns diese Parzellierung in die Sackgasse geführt hat. Städtische Strukturen vor allem an den Kriterien Sicherheit, Ordnung, Sauberkeit und effizientes Verwahren auszurichten, ist dysfunktional. Und dysfunktionale Quartiere produzieren innerhalb der Bevölkerung unfassbar viel Stress und bringen Aggressionen und soziale Verrohung hervor. Das ließe sich durch eine kluge Stadtentwicklung befrieden. Angenehm und attraktiv empfinden Menschen vor allem Städte, in denen wie im Mittelalter alles schön durchmischt, also von kleinteiligem Besatz geprägt ist. Sind Produktion, Wohnen, Arbeiten und Orte sozialer Begegnung in einem Quartier verwoben, entsteht eine städtische Kultur, die Anziehungskraft hat. Das ist die Idee der 15-Minuten-Stadt: Alle Stationen des Alltags sollten zu Fuß oder mit dem Rad binnen einer Viertelstunde erreichbar sein.
Frau Ministerin Geywitz, die angesprochene funktionale Trennung wird von einem Planungsund Baurecht quasi betoniert. Welche konkreten gesetzgeberischen Maßnahmen werden Sie ergreifen, um dem Niedergang der Innenstädte entgegenzuwirken?
Geywitz: Ich will Ihnen ja Ihre schlechte Laune nicht verderben, aber vom Niedergang der Innenstädte zu sprechen, wird der Situation nicht gerecht. Wenn Sie sich die zahlreichen funktionierenden Innenstädte anschauen, sehen Sie, dass dort die Nachfrage steigt und Preise unter anderem für Ladenlokale oder auch Wohnungen nach oben gehen. Von Stadt zu Stadt ist die Situation anders.
von Preen: Absolut!
Das gilt womöglich für Ihren Heimatort Potsdam und Metropolen wie Berlin. Aber wenn Sie auf den ländlichen Raum schauen oder in die Klein- und Mittelstädte im Osten und im Ruhrgebiet, ist die Lage durchaus prekär: Leerstand und Ein-Euro-Shops sind dort weitverbreitet…
Geywitz: Das hat, wie im Harz beispielsweise, oft mit einer dramatisch schrumpfenden und alternden Bewohnerschaft zu tun. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Wir wollen durch eine Änderung der Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm, der TA Lärm, wieder mehr handwerkliches Gewerbe und Reparaturdienstleistungen in unsere Städte bringen. Zusammen mit dem Einzelhandel und Kulturangeboten, in denen nicht konsumiert werden muss, ergäbe das eine attraktive Mischung und neue Dynamik. Es wäre zudem ein deutliches Zeichen gegen eine Wegwerfgesellschaft und für mehr Gemeinsinn. Wenn Sie sich gut funktionierende Innenstädte wie Quedlinburg zum Beispiel angucken, geht es dort wieder in Richtung des kleinteiligen, individuellen Einzelhandels, der dann auch touristischen Mehrwert hat. Der Rückgang von Filialisten ist daher nicht gleichbedeutend mit dem Aussterben der Einkaufskultur.
Herr von Preen, welche Vorschläge und Forderungen bringt der Handelsverband Deutschland in den Beirat Innenstadt ein?
von Preen: Zunächst möchte ich anmerken, dass es nicht allein um Kleinteiligkeit gehen kann. Wir sprechen immer von innenstadtrelevanten Sortimenten, aber es muss auch gelingen, die Flächen für diese Sortimente bereitzustellen. Lebensmittel- und Sportwarenhandel beispielsweise benötigen Ladengrößen von 1000 Quadratmetern und mehr, die Städte oftmals nicht zur Verfügung stellen können. Da braucht es einen engeren Schulterschluss zwischen dem Handel und der Immobilienwirtschaft. Der Handel und die Vermieter müssen gemeinsam eine neue, den veränderten Rahmenbedingungen angepasste Partnerschaft entwickeln. Wir reichen sehr gerne die Hand für neue umsatzabhängige Mietverträge, um zu einer Partnerschaft auf Augenhöhe zu finden. Dann käme es zu einer Win-win-win Situation für die so wichtigen Partner Handel, Gastronomie, Vermieter aus der Immobilienwirtschaft und den Städten. Außerdem fordern wir seit Langem eine Änderung der TA Lärm und sind froh, dass über die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit im Beirat nun Bewegung in die Sache kommt. Zudem plädieren wir für eine Gründeroffensive Innenstadthandel. Ein solches Starthilfeprogramm könnte die jahrzehntelange Erfolgsgeschichte von Gründerzentren nutzen und sie mit dem innerstädtischen Einzelhandel koppeln, was gleichzeitig die Leerstandsproblematik in den Innenstädten mildern würde. Hinzukommen müssten Ansprechpartner in Person von Ansiedlungsmanagern, die über anstehende Leerstände auf dem Laufenden sind, freie Flächen vermitteln und das Thema Nachfolge im Blick haben.
Frau Srock.Stanley, Stichwort Retailtainment: Wie muss sich der stationäre Handel neu aufstellen, um auch in Zukunft attraktiv zu bleiben?
Srock.Stanley: Bei großen Projekten binden wir oft Studiengruppen ein und haben festgestellt, dass die Teilnehmer klar unterscheiden zwischen Einkaufen und Shoppen: Einkaufen dient der Bedarfsdeckung mit Alltagsprodukten, Shoppen ist eine Freizeitaktivität. Die Bedarfsdeckung erfolgt zunehmend online. Denkt man das zu Ende, muss der stationäre Handel einen Kategorienwechsel vollziehen und Teil der Freizeitindustrie werden, in der ganz andere Prioritäten gelten. Ein Freizeitanbieter optimiert auf Aufenthaltsqualität und Erlebnis hin, bietet eine lebendige Mischung aus Anspannung, Entspannung, Gastronomie und Entertainment an. Diese Destinationen sind bis ins Detail diesen Prioritäten entsprechend gestaltet, weil es primär darum geht, dass die Leute gerne wiederkommen. Fühlen sie sich wohl, kaufen sie auch gern Produkte im Exit-Retail. Das fundamentalste Umdenken im Handel muss in Richtung einer solchen Exit-Retail-Strategie gehen. Große Händler schaffen das kanalübergreifend mittels technisch aufwendiger und dramaturgisch ausgeklügelter Inszenierungen. Kleine, inhabergeführte Läden bieten oft ein hochwertiges, sehr tiefes Sortiment, das sie im Rahmen von Veranstaltungen oder Verköstigungen präsentieren, um ihre Kunden zu Kennern zu machen. Mit wachsendem Qualitätsbewusstsein sind diese bereit, mehr Geld auszugeben. Das ermöglicht es Händlern, höherpreisige Sortimente zu realisieren. Schnell, billig und lieblos – das wird es in Zukunft schwer haben.
Machen wir einen Themenwechsel, Frau Ministerin Geywitz: Bislang gilt beim Verkauf städtischer Flächen in aller Regel noch immer das umstrittene Höchstpreisgebot. Das Ergebnis ist oft von großen Generalunternehmen gebaute Einheitsarchitektur, die zu Höchstpreisen vermietet wird. Ist das für die Entwicklung von lebendigen Innenstädten tatsächlich sinnvoll? Welche Instrumente haben Länder und Kommunen oder Sie als Bundesministerin, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen?
Geywitz: Es muss keine Kommune Grundstücke zum Höchstpreis verkaufen. Für Grundstücke des Bundes haben wir eine Richtlinie, mit der wir Flächen für öffentliche Aufgaben sowie den sozialen Wohnungsbau vergünstigt an Kommunen im Erstzugriff vergeben können. Im Rahmen einer Konzeptvergabe ist auch die Weiterveräußerung eines vergünstigt erworbenen Grundstücks an private Dritte möglich, sofern dieser Dritte eine öffentliche Aufgabe für die Kommune übernimmt. Ich rate aber immer dazu, möglichst wenig Grundstücke aus öffentlicher Hand zu verkaufen, sondern eher zu verpachten. Dann kann die Kommune im Sinne einer vorausschauenden Bodenvorratspolitik flexibler reagieren, wenn sich die Bedarfe im Laufe der Zeit ändern. Zusätzlich braucht es ein professionelles Freiflächenmanagement, um Standards für eine klimagerechte Begrünung festzuschreiben.
von Preen: Ich möchte dem Gesprächsverlauf jetzt doch mal einen positiveren Touch geben. Wir sprechen die ganze Zeit von Problemen und Herausforderungen – ich aber sehe vor allem enorme Chancen für eine Renaissance der Innenstädte, wie wir sie in den vergangenen Dekaden zu keiner Zeit hatten. Klara Geywitz' Ministerium, Robert Habecks Wirtschaftsministerium und auch wir als Handelsverband Deutschland haben wie viele weitere Fachleute erkannt, dass wir jetzt etwas tun müssen: Der Klimawandel steht an, wir müssen mit allen Stakeholdern vereint die Städte grüner, intelligenter und digitaler machen. Das sind doch traumhafte Entwicklungsmöglichkeiten!
Wenn vieles im Argen liegt, lässt sich natürlich potenziell auch vieles verbessern. Der Beirat Innenstadt wurde gerade deswegen gegründet, weil der Handlungsbedarf so groß ist…
von Preen: Die schwierige Lage haben wir erkannt: Es besteht also kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Darum müssen wir jetzt nach vorne schauen. Alle beteiligten Ministerien sind trotz des schwierigen gesamtwirtschaftlichen Umfelds mit Energie dabei und willens, das Beste zu tun. Natürlich würden wir es begrüßen, wenn mehr Geld zur Verfügung stünde, damit es schneller geht. Aber wir müssen uns der Realität stellen.
Frau Srock.Stanley, momentan ruhen viele Hoffnungen auf MultiUseKonzepten. Ist das der richtige Weg oder könnte man sich die oft aufwendigen Umbauten sparen, wenn Vermieter bereit wären, die Ladenmieten für den Handel zu senken?
Srock.Stanley: Das ist eine ökonomische Abwägung, die man mit Bedacht treffen muss. Wir arbeiten aktuell mit vielen Shoppingcentern zusammen, die die Flucht nach vorn antreten und sagen: Wir setzen auf Aufwertung, betreiben Retailtainment und begreifen uns als Destination. Das klassische „Ich stelle etwas hin – und dann kommen die Leute schon“ funktioniert nicht mehr. Es braucht ein kuratiertes Sortiment, eine ansprechende Mischung und hochwertige Architektur, damit das Gesamtpaket stimmt. Insofern rate ich dazu, die Sachen nach vorne zu entwickeln und nicht Rabatte draufzupacken, um alles beim Alten belassen zu können. Zumal langfristig die allermeisten Gebäude sowieso modernisiert und energetisch saniert werden müssen, wenn sie nicht als Stranded Assets enden sollen.
Viele notwendige Bau und Sanierungsmaßnahmen ziehen sich über Gebühr in die Länge, weil die Genehmigungsverfahren so kompliziert und langwierig sind. Wann kommt das neue Deutschlandtempo, von dem der Kanzler so gerne spricht?
Geywitz: Ein ganz wesentlicher Punkt ist die Digitalisierung des Antragsprozesses. Da sind wir bis Ende des Jahres mit Mecklenburg-Vorpommern dabei, den digitalen Bauantrag für einen Großteil der Bundesländer umzusetzen. Aufgrund des Fachkräftemangels muss der Computer künftig die Standardprozesse übernehmen, lediglich die Abwägungsentscheidungen werden noch von Menschen getroffen. Und weil wir viele Sanierungen, Neubauprojekte und den Ausbau der erneuerbaren Energien voranbringen wollen, setzen wir uns länderübergreifend für einheitliche Typengenehmigungen und für die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren ein. Das Tempo der Vergangenheit können wir uns nicht mehr leisten.
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