Supply-Chain-Management

Das Frenemy-Projekt

Ein US-Modehändler nimmt es mit Amazon und FedEx auf, indem er seine eigene Logistiktochter gründet und andere Mittelständler zum Mitmachen einlädt. Auslöser für das Projekt war ein Lieferstopp von UPS in der Pandemie. Ob ein solches Netzwerk auch in Europa möglich wäre?

Von Christine Mattauch 28.03.2023

© Stocksy United/Thais Ramos Varela

Die Konkurrenz im Visier: Quiet Platforms gestaltet die Art und Weise neu, wie Retailer und Marken ihre Kunden beliefern.

Aus der Überschrift sprach Überraschung. „American Eagles heißestes Business sind nicht Jeans – es ist die Logistik“, titelte vor gut einem halben Jahr das Fachmagazin Business of Fashion. Da hatte American Eagle Outfitters (AEO), ein amerikanischer Retailer aus Pittsburgh, Pennsylvania, bereits zwei Logistikdienstleister gekauft. Es war der Start eines ungewöhnlichen Projekts: Über eine neue Tochterfirma, Quiet Platforms, wickelt AEO seither nicht nur das eigene Liefergeschäft ab, sondern auch das von rund 50 weiteren Händlern. „Wir gestalten die Art und Weise neu, wie Retailer und Marken ihre Kunden beliefern“, sagt Shekar Natarajan, Chief Supply Chain Officer von AEO und Initiator des neuen Modells.

Das ist keineswegs übertrieben. Mit Quiet Platforms tritt AEO nicht nur gegen große Logistikdienstleister wie Amazon, UPS oder FedEx an, sondern schafft auch einen horizontalen Verbund gleich gesinnter Mitbewerber, sogenannte Frenemies (ein Schachtelwort aus den englischen Begriffen „friend“ und „enemy“). Das ist selten in der Branche. „Die Idee ist, gemeinsam Skaleneffekte zu erzielen“, erklärt Iris Hausladen, Professorin für IT-gestützte Logistik an der HHL Leipzig Graduate School of Management. Sprich: Die Kostenvorteile, die sich durch Bündelung großer Liefermengen ergeben, sollen nicht länger Dienstleistern zugutekommen, sondern das Budget derer entlasten, die zu den Mengeneffekten beitragen.

Damit unterscheidet sich die händlergesteuerte Frenemy-Logistik sowohl von Kooperationen, die Dienstleister untereinander eingehen, als auch von Initiativen einzelner Händler wie der Otto Group, die 1972 für den Eigenbedarf den Hermes-Versand gründete und diesen erst viel später für externe – in der Regel kleinere – Unternehmen öffnete.

Kann der neue Ansatz funktionieren? Immerhin läuft die Idee konträr zum Outsourcing-Trend, der die Wirtschaft bis heute prägt: Dienstleistungen wie Lagerung und Auslieferung an Spezialisten abzugeben, erscheint auf den ersten Blick günstig und risikoarm. Aber das ist eben nicht alles. „Händler, die vom Produkt und Sortiment her denken, haben häufig nicht erkannt, wie maßgeblich die Logistik als Erfolgsfaktor ist“, sagt Christoph Tripp, Professor für Distributions- und Handelslogistik an der Technischen Hochschule Nürnberg. Nicht zuletzt durch die wachsende Relevanz des Onlinehandels wird Supply-Chain-Management vielfach wieder als Kernkompetenz definiert. Zu den Vorteilen gehört eine bessere Kontrolle. „Wenn ich die Logistik selbst in die Hand nehme, bin ich Herr meiner Prozesse und Daten“, verdeutlicht Tripp.

Gleiche Chancen für gesamtes Netzwerk

Dieser Wunsch gab offenbar auch bei AEO den Ausschlag. Während der Pandemie machte das Unternehmen eine unliebsame Erfahrung: Als Onlinebestellungen im Lockdown explosionsartig anstiegen
und Zusteller völlig überlastet waren, teilte der Paketdienst UPS American Eagle mit, dass dessen Pakete nicht länger zugestellt würden. So zumindest berichtet es Shekar Natarajan. Der Manager, der zuvor für Unternehmen wie Coca-Cola, Target und Walmart gearbeitet hatte, entwickelte seine Idee zu einem Frenemy-Netzwerk allerdings schon Jahre zuvor, wie eines seiner seltenen Interviews im Logistikmagazin Supply Chain Quarterly aus dem Jahr 2018 belegt.

Der Aufbau einer eigenen Logistik ist sehr teuer, bei American Eagle sollen die Investitionen bei rund einer halben Milliarde Dollar gelegen haben. Entsprechend groß sind die Risiken. Hinzu kommt: Die Kapazitäten der übernommenen Firmen, die zuvor auch für andere tätig waren, hätte AEO gar nicht allein ausfüllen können. Die Entscheidung für ein Frenemy-Netzwerk war insofern alternativlos. „Entscheidend ist, Menge reinzuholen und das System möglichst gut auszulasten. Das bestimmt über die Skaleneffekte“, sagt Tripp. Die wiederum entscheiden über die Preise und somit darüber, wie attraktiv die AEO-Tochter als Dienstleister für andere Unternehmen ist.

Der Preis ist allerdings nicht der einzige Faktor, Quiet Platforms will auch mit Kundenservice punkten. Natarajan wirbt damit, Partnern den Zugang zu hochklassiger Logistik zu öffnen und dadurch „gleiche Chancen für alle“ zu schaffen. Er verspricht, binnen drei Jahren so viele Lagerhäuser zu errichten, dass eine Lieferung am nächsten Tag garantiert ist – und das in den gesamten USA. Derzeit liegt
die Quote nach Firmenangaben bei 70 Prozent. Auch der Ausbau der Same-Day-Delivery ist ein Ziel. Eine Kooperation mit dem Plattformspezialisten FourKites soll sicherstellen, dass die Partner volle Transparenz über ihren Warenfluss haben, inklusive Realtime-Tracking von Inventar und Auslieferungen.

Bereitschaft, Daten zu teilen

Unter den Händlern, die das überzeugt hat, sind Marken wie das Discount-Outlet Saks off Fifth (Fashion), Steve Madden (Schuhe) und der Sportartikelhersteller Fanatics. Trotzdem gibt es für potenzielle Mitstreiter Hürden. Letztlich sind es im Frenemy-Modell nicht sie, die die Kontrolle behalten – und sie müssen der AEO-Tochter sensible Daten wie Liefermengen anvertrauen. Davor würden vor allem direkte Konkurrenten von AEO zurückscheuen, meint Tripp. Zudem besteht innerhalb des Netzwerks keine Möglichkeit, sich gegenüber Verbrauchern mit besonders gutem Lieferservice zu profilieren – es unterliegen ja alle den gleichen Konditionen. Natarajan sieht darin kein Problem. „Unternehmen konkurrieren dann in den Disziplinen, die sie am besten beherrschen: Produkt, Marketing und Kundenbetreuung“, sagte er dem Fernsehsender CNBC.

Bislang ist AEOs Modell offenbar einzigartig, in Deutschland jedenfalls sucht man eine vergleichbare Initiative vergebens. Expertin Hausladen findet „die Idee an sich sehr gut“, bezweifelt aber, dass sich der Aufwand angesichts kürzerer Distanzen und geringerer Liefermengen hierzulande lohnen würde. Aus Sicht von Tripp käme eher die europäische Ebene in Betracht. Grundsätzlich hält er den Kooperationsansatz aber für zukunftsfähig, zumal unter Partnern, die auf Augenhöhe agieren. „Die Frage ist immer, wie werden Gewinne und Verluste verteilt? Da kommt es auch auf Vertrauen an.“ Gebraucht würde allerdings ein Pionier, der willens und in der Lage wäre, die hohen Anfangsinvestitionen zu stemmen, wie es in den Vereinigten Staaten American Eagle vormacht.

Perspektivisch könnte das Modell noch ganz andere Vorteile bieten, Stichwort Nachhaltigkeit. „Die Vision ist, dass Konsumenten, die bei mehreren Händlern innerhalb des Verbunds bestellen, nur noch ein Päckchen erhalten“, sagt Hausladen. Dafür gibt es allerdings zahlreiche Hürden, auch haftungsrechtlich. Ganz abgesehen von der Frage, wie Händler dazu stehen würden. Ohnehin muss Quiet Platforms jetzt erst einmal beweisen, dass es in puncto Kosten, Zuverlässigkeit und Technik auf Dauer mit den großen etablierten Spielern mithalten kann.

Schlagworte: Vernetzung, Kundenservice, Handelslogistik

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