Herr Thinius, die Innenstädte sind ohne Zweifel eines der Opfer der Pandemie. Hätte sich das verhindern lassen?
Nein, die Städte haben zu lange an industriellen Konzepten festgehalten und die klassische Innenstadt als Einkaufsstadt verteidigt. Zeitgemäßer wäre es gewesen, gemischte, attraktive Viertel zu gestalten und die lokalen Einkaufsstraßen der Stadtteile zu fördern. Dass es dazu nicht gekommen ist, lag unter anderem an den Vermietern, die für 1-a-Lagen Preise aufgerufen haben, die sich allein Telefonkonzerne und große Ketten noch leisten konnten. Zudem hat man verpasst, die lokalen Stadtteilstrukturen in regionale Online-Vertriebsstrukturen einzugliedern, mit denen die Wertschöpfung in der Stadt hätte gehalten werden können. Weil aber alle weitergemacht haben wie zuvor, floss immer mehr Umsatz an die großen Onlinekonzerne aus Amerika. Corona zeigt nun sehr deutlich, dass sich die Strukturen verändern: Das Interesse der Menschen geht weg von den Innenstädten und Einkaufscentern, sie suchen nun verstärkt nach lokalen Einkaufsmöglichkeiten. Jetzt könnte die Stunde neuer Konzepte schlagen …
Sie bezeichnen die Not der Innenstädte als Chance für eine Renaissance der Stadtviertel. Wie ist das gemeint?
Durch das Arbeiten im Homeoffice verschieben sich die Stadtstrukturen. An die Stelle der klassischen Dreiteilung von Einkaufs-, Wohn- und Arbeitsviertel treten zunehmend wieder gemischte Viertel, die alles vor Ort bieten. Paris hat als erste Metropole die 15-Minuten-Stadt ausgerufen: attraktive, durchmischte Viertel, in denen die Bewohner alles innerhalb von 15 Minuten bekommen oder sich aus anderen Stadtvierteln liefern lassen können, sodass die Wertschöpfung am Ort bleibt. Wir beobachten diese Entwicklung derzeit in vielen Großstädten, aber auch in kleinen und mittelgroßen Orten, bis hinunter zu einer Einwohnerzahl von rund 100 000. Dadurch entsteht Raum für Kreativität, wobei es nicht das „eine“ Lösungskonzept gibt. Vielmehr gilt es, die lokalen Möglichkeiten auszuschöpfen.
Gibt es dennoch Gemeinsamkeiten?
Für viele irritierend ist: Autos müssen in vielen Fällen raus aus den Städten. Ohne Autos steigt sehr schnell die Lebensqualität eines Viertels. Das Leben auf der Straße kommt zurück, Geschäfte siedeln sich an, die Kriminalitätsrate sinkt und teilweise auch die Arbeitslosenquote. Allerdings funktioniert das nicht ohne alternative Mobilitätskonzepte. Das Fahrrad wird dabei eine große Rolle spielen. Aber wir müssen auch den ÖPNV neu denken – zum iÖPNV, dem individuellen öffentlichen Personennahverkehr.
Wie sieht das Leben in den Städten in 25 Jahren aus?
Es sind nicht allein die Metropolen, sondern vor allem die kleinen und mittleren Städte, die in Deutschland wachsen und sich schnell umstellen werden. Und das bereits ab 2025. In 25 Jahren werden wir neben regionalen und lokalen Händlern auch wieder vermehrt lokale Handwerker antreffen. Zum Beispiel trage ich Poloshirts aus Wolle, produziert von einer Kopenhagener Firma. Die Schafe grasen vor den Toren der Stadt. Dank digitaler Technologie kosten Produktionsmaschinen nur noch ein Zehntel im Vergleich zu von vor zehn Jahren, im Textilbereich zum Beispiel 30.000 Euro statt zuvor mehr als eine Viertelmillion. Auch andere Produkte, die ich kaufe, entstehen schon heute fast gänzlich bei mir vor der Haustür in Kopenhagen. Ein internationaler Anbieter von Möbeln beispielsweise lässt Regale in lokalen Tischlereien statt in Asien fertigen. Das funktioniert dank digitaler Produktionsdaten und Maschinen, die die Fertigung weitgehend autark erledigen. Das ist zunächst ein Test, funktioniert aber. Mit dem zusätzlichen Effekt, dass ich zu meinem Tischler gehen und sagen kann: „Ich hätte gerne dieses Regal, aber bitte fünf Zentimeter breiter.“ Das industrielle Konzept mit zentraler Fertigung wird in 25 Jahren ausgedient haben. Selbst kleinste Städte und Dörfer bekommen wieder die Möglichkeit, lokale Wertschöpfung zu betreiben statt Euros durch die Welt zu schicken.
Was sind die Folgen für Mensch und Stadt?
Wir werden in abwechslungsreichen und lokal geprägten Städten leben, die nicht mehr von monotonen Ketten beherrscht werden. Parallel bekommen wir spätestens 2026 den digitalen Euro. Damit werden sich mittelfristig nicht nur finanzielle Werte, sondern auch weitere Daten verknüpfen lassen: Es wird dann nachvollziehbar sein, wie Produkte hergestellt wurden und wie fair oder regional die Lieferketten waren. Wir werden wieder in Resonanz zu unserer Umwelt treten, was uns innerhalb der bisherigen industriellen Strukturen abhandengekommen war. Gleichzeitig werden in diesen gemischten Vierteln Menschen ortsunabhängig arbeiten können, gleich ob zu Hause, auf dem Spielplatz oder im Café. Firmen werden Co-Working-Areas definieren, in denen sich verschiedene Menschen treffen können. Man wird weniger reisen, aber nicht immer allein arbeiten. Überdies werden wir gesünder leben, denn auch die Produktion unserer Lebensmittel wird wieder lokaler erfolgen, mithilfe von Algorithmen werden viele Gemüsesorten binnen 24 Stunden nach der Ernte bereits auf unserem Teller liegen. Kurz gesagt: Unser Alltag wird sich zu rund 80 Prozent ändern. Das eröffnet viele Chancen, ihn besser zu gestalten.
Sie verstehen es als Ihre Aufgabe als Futurologe, den Menschen die Zukunftsangst zu nehmen. Hat Corona für die Gesellschaft auch etwas Positives hervorgebracht?
Die Krankheit und ihre Todesfolgen ausgeklammert, hat Corona uns in gewisser Weise sogar gerettet. Die Pandemie hat eine Dynamik angestoßen, die uns die Augen geöffnet hat. Dass wir neue Arbeits- und Bildungsstrukturen brauchen, um die Digitalisierung voranzubringen beispielsweise – und neue Standortkonzepte, von denen auch kleine Städte profitieren. Da wir unseren Alltag ändern mussten, haben wir begonnen, ihn neu denken. Ohne Corona hätte sich der Prozess viel schleichender vollzogen und uns verleitet, sterbende Strukturen länger zu bewahren. Jetzt ist alles auf den Tisch gekommen und wird diskutiert. Nicht sofort für alle zufriedenstellend und vielleicht auch nicht schnell genug – aber unaufhaltsam.
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