Den endgültigen Durchbruch im urbanen Raum haben Lieferdienste mit der Corona-Pandemie erlebt. Die Konsumenten nahmen die Alternative zum Einkauf im Ladengeschäft dankend an. Mehr als die Hälfte der Käufer in deutschen Großstädten kauften ihre Lebensmittel lieber bei einem Lieferdienst als im Lebensmittel-Einzelhandel (LEH). Und vier von fünf Konsumenten wünschten sich zudem, dass dieses Angebot auch über die Pandemie hinaus erhalten bleiben möge.
So traten in den letzten zwei Jahren viele Wettbewerber in den Markt ein. Von Anbietern wie Gorillas oder Flink, welche ein klassisches Supermarktsortiment anbieten über Anbieter spezieller Produkte – wie beispielsweise Yababa für türkische Lebensmittel – bis hin zu solchen wie Alpakas, die unverpackt verkaufen und liefern. Die Erfahrung zeigt, dass sich nach einem Boom nur wenige große Player am Markt etablieren. Diese Entwicklung zeichnet sich nun ab: Kündigungswellen bei Gorillas und Co machen gerade Schlagzeilen.
Sollte eine Marktbereinigung stattfinden, gäbe es bald sehr viele Lagerflächen in Berlin, die auf einen Schlag freistehen würden. Auch andere Städte wären betroffen. Daher stellt sich die Frage: Wie können Anbieter jetzt schon umsteuern, um sich auf die Marktveränderungen vorzubereiten? Welche Möglichkeiten bieten sich Lebensmittel-Lieferdiensten über ihr aktuelles Business-Modell hinaus?
Kundendaten als entscheidender Vorteil
Die Stärken von Lebensmittel-Lieferdiensten sind bekannt. Neben der guten digitalen Experience und dem damit verbundenen Kundenservice glänzen entsprechende Anbieter vor allem durch einen entscheidenden Vorteil gegenüber herkömmlichen Supermärkten: Sie haben direkten Zugang zu den Kundendaten und können so leicht einsehen, welche Produkte in welchen Stadtteilen von welchen Personengruppen nachgefragt werden, und ihr Sortiment entsprechend ausrichten. Diese Karte spielt Gorillas aktuell in einer neuen Werbekampagne aus.
Daten sind also die entscheidende Ressource, die Lieferdiensten neue Wachstums- und Geschäftsfelder eröffnet. Durch die Daten, welche sich aus den Nutzerprofilen der Kunden ergeben, können Lieferdienste auch eine gezielte Ausrichtung des Businessmodells nach lokal gefragten Services und Produkten vornehmen. Hieraus ergeben sich primär drei Szenarien für die Zukunft:
#1: Lagerflächen zu autonomen Supermärkten umwandeln
Eine Möglichkeit wäre die Umwandlung der Lagerflächen zu autonomen Supermärkten – also Märkten, in denen die Kunden einkaufen und durch automatische Warenerfassung bezahlen. Dies könnte in Kooperation mit großen Lebensmittel-Ketten passieren, ähnlich wie aktuell bei Flink und Rewe. Das Sortiment würde damit aus Produkten des täglichen Bedarfs, welche sonst klassisch im Supermarkt zu finden sind, bestehen und zu Retail-Preisen angeboten werden.
Autonome Läden bilden den perfekten Mix aus Supermarkt und Spätkauf: Durch die Automatisierung aller Prozesse können sie rund um die Uhr geöffnet sein. Dieses Szenario kommt der hervorragenden digitalen Experience und dem bisherigen, recht datengetriebenen Businessmodell der Lieferdienste – im Gegensatz zum herkömmlichen LEH – entgegen.
Weitergedacht bieten autonome Supermärkte Lieferdiensten die Möglichkeit, in bisher unerreichbare oder wenig lukrative Bereiche im ländlichen Raum zu expandieren. Denn schlechter bis gar nicht vernetzte Regionen Deutschlands sind mit dem aktuellen Geschäftsmodell nicht erschließbar. Das Potenzial ist schlicht zu gering – sowohl was die Kaufkraft der Kunden angeht als auch die Umsetzbarkeit seitens der Anbieter.
Allein genügend Rider anzustellen, dürfte schwierig sein, ganz abgesehen von den Strecken, welche diese zurücklegen müssten. Bei der Weiterentwicklung des Geschäftsmodells in Richtung autonomer Supermärkte würde dies kein Problem mehr darstellen, zudem würde die Infrastruktur ländlicher Regionen deutlich verbessert werden.
#2: Lagerflächen für lokales Franchise zur Verfügung stellen
Eine zweite Möglichkeit, bei der das Kerngeschäft der Anbieter erhalten bleiben würde, ist die Umwandlung von Lagerflächen zu stationären Kiosken mit individuellem Schwerpunkt. Durch die gesammelten Daten und die Dichte der Lagerflächen lässt sich die Nachfrage der umliegenden Kunden präzise bestimmen, so dass Franchisenehmer ein passgenaues Angebot für den Lieferumkreis eines Standorts ermitteln können.
Eine Lagerfläche wird so vielleicht in eine Drogerie umgewandelt, eine andere in einen Weinladen mit Feinkost-Theke und eine dritte in eine Kaffeerösterei mit zugehörigem Buchladen. Sie alle würden zu physischen Points of Sale. Ideale Öffnungszeiten lassen sich ebenfalls aus den Nutzerdaten ableiten, darüber hinaus bleibt aber der Lieferservice erhalten. Somit vereinen Anbieter die Bequemlichkeit des Services mit der individuellen und passgenauen Gestaltung der Stadtteile.
#3: Lieferdienste als Service für lokale Läden
Zusätzlich zu seinem Standardangebot könnte ein Lieferservice auch Bücher aus dem Laden im Viertel oder Medikamente aus der örtlichen Apotheke ausliefern. Der Rider wird vom Lieferanten zu einer individuellen Servicekraft und hilft so den Menschen – beispielsweise jungen Familien, viel beschäftigten Arbeitnehmern oder älteren Personen –, ihre Einkäufe effizient zu steuern.
Lieferdienste müssen umdenken
Letztlich verhält es sich wie auf allen Märkten: Lieber den Wettbewerbern und dem Markt einen Schritt voraus sein, statt sich verdrängen zu lassen. Dafür lohnt es sich, als Early Adopter das eigene Businessmodell frühzeitig zu hinterfragen und mögliche Chancen zu ergreifen. Wenn Anbieter den Mut haben, Veränderung zu wagen, lässt sich das Kerngeschäft innovativ erweitern und wird für einzigartiges und nachhaltiges neues Wachstum sorgen.
Hier geht es zum Autoren-Profil von Michael Fleck.
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