Supply Chains

Abhängig von Fernost

Der Handel sucht vor dem wichtigen Weihnachtsgeschäft nach Möglichkeiten, Löcher in den weltweiten Lieferketten zu stopfen – und sich künftig resilienter gegen Pandemien und andere Risiken aufzustellen.

Von Ralf Kalscheur 09.11.2021

© Maxar

Nichts geht mehr: Im März diesen Jahres havarierte das Frachtschiff Ever Given im Suez­kanal – die sechs Tage dauernde Blockade führte zu massiven Verwerfungen im Welthandel.

Nach rund eineinhalb Jahren des Ringens mit dem Coronavirus verbreitet sich in der Branche Aufbruchstimmung: Das Weihnachtsgeschäft verspricht ein gutes zu werden, sofern es die gewünschten Geschenke rechtzeitig vor dem Fest in den Handel schaffen. Doch nach wie vor stellt die durch die Pandemie hervorgerufene Störung der globalen Warenströme den Handel vor große Herausforderungen – und gefährdet den Neustart nach der Krise.

„Vor allem jene Branchen, die, wie der Elektrohandel, von in China produzierten Waren besonders abhängen und zudem noch nachfrageseitig stark auf das Weihnachtsgeschäft angewiesen sind, könnten mit Engpässen durch verspätete oder ausbleibende Lieferungen zu kämpfen haben“, sagt Sven Kromer, Retailexperte und Managing Partner der Unternehmensberatung Kurt Salmon. Zwar hätten sich vorausschauend agierende Supply-Chain-Manager bereits im Frühjahr um Schiffe und Container bemüht und nähmen die Mehrkosten für erhöhte Bestände in Kauf, damit die Ware nicht erst nach Weihnachten eintrifft. Deshalb rechnet Kromer „noch nicht“ mit Leerstellen unter dem Tannenbaum. „Doch es wird in einigen Bereichen zu Verzögerungen kommen. Verbraucher sind auf jeden Fall gut beraten, sich frühzeitig um ihre Weihnachtsgeschenke zu kümmern.“

Die Gründe für den stockenden Warenverkehr sind vielfältig. Unter anderem wandelte sich in der Pandemie das Verbraucherverhalten: Unvorhergesehene Vorratskäufe und das lockdownbedingte Wachstum des E-Commerce haben das fragile Netzwerk der weltumspannenden Lieferketten ebenso erschüttert wie die Nachholkäufe mit Einsetzen der „neuen Normalität“. In den westlichen Staaten fehlen Abertausende Lieferanten und Lastwagenfahrer, und selbst auf den Weltmeeren herrscht Fachkräftemangel.

Explodierende Containerpreise

Die internationale Schifffahrtskammer ICS meldet, dass mehr als 100 000 Seeleute teils monatelang auf Schiffen in Asien festsitzen, weil sie aufgrund von Corona nicht gegen andere Crews ausgetauscht werden dürfen. Vor dem wegen eines Corona-Ausbruchs im Sommer zeitweise geschlossenen Hafen von Shenzhen-Yantian, dem viertgrößten der Welt, stauten sich bis zu 130 Containerschiffe. 90 Prozent aller Elektronikexporte aus China laufen über den südchinesischen Hafen. Die Schiffe fallen wochenlang für den globalen Warenverkehr aus.

„Das Hauptproblem, das Nadelöhr für den Welthandel, ist aber momentan der Containermangel“, betont Kromer. Viele Boxen gelangen nur verzögert zurück in den Kreislauf, weil der Hinterlandverkehr von und zu den Lagern überlastet ist und Container längere Zeit im Transport gebunden sind. Die Folge: Marktteilnehmer reißen sich bei weihnachtssaisonal wachsender Nachfrage um die verbliebenen freien Container – die Frachtraten explodieren. „Was gerade passiert, ist ein Paradebeispiel für den Bullwhip­Effekt in der Supply Chain“, sagt Kromer. Der Peitscheneffekt bezeichnet das Phänomen, dass bereits kleine Abweichungen in der Endkundennachfrage zu Schwankungen der Bestellmengen führen, die sich wie ein Peitschenhieb in Richtung Ursprung der Lieferkette aufschaukeln können. Der Preis von Containern für den Transport von Waren aus Asien nach Europa und in die USA hat sich mehr als verachtfacht.

Es wird noch dauern, bis die Staus abgebaut sind. „Ich rechne mit einer Normalisierung in der ersten Jahreshälfte 2022“, sagt Kromer. „Die Reeder haben sich jahrelang in Preiskämpfen aufgerieben und sind zu Grenzkosten gefahren. Es wäre nachvollziehbar, wenn sie nun kein gesteigertes Interesse daran zeigten, die für sie lukrative Mangelsituation möglichst schnell aufzulösen.“

Nach Einschätzung von Rudolf Trettenbrein, Lieferkettenexperte und Geschäftsführer der internationalen Unternehmensberatung Inverto, ist die Beschaffungsverlegenheit vor dem Weihnachtsgeschäft für bestimmte Teile des Handels besonders folgenreich. In stark saisonal geprägten Produktgruppen wie Schuhe führe eine um vier oder sechs Wochen verspätete Anlieferung dazu, dass Händler auf Ware sitzen blieben. Bei stromgeführten Produkten, die besonders gern verschenkt werden, wiegten Einschränkungen beim Weihnachtsgeschäft ebenfalls schwer. „Es trifft jetzt vor allem jene Branchen, die jahrzehntelang darauf fokussiert waren, kostengünstig in China und Fernost produzieren zu lassen. Die Supply Chain hatte ja bislang immer problemlos funktioniert. In der Konsequenz wurden Produktionslinien in Europa mehr und mehr abgebaut“, so Trettenbrein.

Produktion zurück nach Europa holen

Daher handele es sich bei der aktuellen Situation um ein zumindest zum Teil hausgemachtes Problem des Handels. Die Branche habe sich in ein Abhängigkeitsverhältnis begeben, das Corona – oder ein festgefahrener Frachter im Suezkanal – plötzlich sichtbar machten. Kurzfristig lasse sich die Produktion zwar nicht zurück nach Europa verlagern, doch: „Durch den Worst Case hat jetzt ein Umdenken begonnen, diese totale Abhängigkeit von Fernost nicht länger für akzeptabel zu halten. Wir bekommen zurzeit viele Anfragen von Händlern und Herstellern, die versuchen, in Ost- und Südeuropa, in der Türkei oder teils auch in Nordafrika besser erreichbare Partner zu finden und Produktionskapazitäten aus der Vergangenheit neu zu beleben“, berichtet Trettenbrein.

Eine zumindest teilweise Re-Regionalisierung der Lieferketten erfordere allerdings erhebliche Investitionen vonseiten der Produzenten in Standorte, Personal und Maschinen, so der Experte. „Dafür wollen und brauchen die Hersteller mittel- und langfristige Verträge. Ohne diese Planungssicherheit würden sie Gefahr laufen, dass Handelsunternehmen die Situation nur überbrücken und sich erneut günstigere Alternativen suchen, sobald die Supply Chains wieder funktionieren.“ Nach Trettenbreins Einschätzung sind die Unternehmen angehalten, ihre Beschaffung zu diversifizieren und größere, flexible Netzwerke mit regionalen Lieferanten zu bilden. Schließlich wachse auch beim Kunden die Erkenntnis, dass nachhaltiges Shoppen nicht allein eine Frage des Preises ist, so Trettenbrein.

Berater Kromer hält eine stärkere Diversifizierung von Lieferanten ebenfalls für notwendig – vor allem aber in den Regionen Asiens. „Gerade im Handel ist der Zwang groß, Skaleneffekte zu erzielen. Ich erwarte daher keine nennenswerten Volumenverlagerungen in osteuropäische Länder wie Polen oder Rumänien, einfach weil Anbieter fehlen, die die nötigen Kapazitäten haben oder aufbauen könnten.“ Doch auch Kromer erkennt ein Umdenken in der Branche.

Verlässliche Partnerschaften bilden

„Die Machtverhältnisse verschieben sich. Vor allem große Handelsunternehmen erwarteten bislang häufig trotz längerfristiger Kontrakte volle Flexibilität von Produzenten und Logistikern. Es braucht aber beiderseitiger, vertrauensvoller Commitments, die den Rahmen für verlässliche Partnerschaften bilden.“ Dann werde man prioritär behandelt, wenn es zu verfahrenen Situationen wie derzeit komme. Die nächste Störung der internationalen Warenströme kommt bestimmt, sei es etwa in Form von Pandemien oder gehäuft auftretenden Wetterphänomenen – und sie träfe ein bereits geschwächtes System

Sven Kromer ist Managing Partner der zu Accenture Strategy gehörenden Unternehmensberatung Kurt Salmon und Experte für die Themen Beschaffung und Supply Chain Management im Handel

Rudolf Trettenbrein ist Geschäftsführer der internationalen Unternehmensberatung Inverto in Wien und berät Kunden bei der Re-Regionalisierung von Lieferketten, im Supply Chain Management sowie bei der Kostenoptimierung im Einkauf.

Schlagworte: Lieferkette, Asien, Weihnachtsgeschäft

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